Das Wesen der Stadt auf Papier
Urban Sketcher in Mainz zeichnen gemeinsam, was sie sehen
Vor einer halben Stunde hat sie ihre Bambusfeder zum ersten Mal ins Tintenglas getaucht. »Jetzt ist es fertig«, sagt Inma Serrano und betrachtet das Bild auf einer Doppelseite ihres Skizzenblocks. Die Lehrerin aus Sevilla gehört zu den sieben Künstlern, deren Zeichnungen bis Anfang September in der Ausstellung »Vor Ort - zeichnend Erzähltes« im Landesmuseum in Mainz gezeigt werden. Urban Sketching, das Zeichnen in der Stadt, hat immer etwas Flüchtiges. Es geschieht auf der Straße. Die fertigen Arbeiten werden meist nicht in Galerien, sondern in Blogs oder auf Instagram gezeigt.
Serrano schaut die 100 Stufen einer Treppe am Rand der Mainzer Altstadt hinauf, gerahmt von einer Ziegelmauer mit vielen Graffiti. Mit schnellen Tusche-Strichen hält sie die steile Perspektive fest und einen hinaufsteigenden Passanten. Für die Graffiti, die Bäume am Rand der Treppe und den Himmel nimmt sie Wasserfarbe. »Jeder Ort hat seinen eigenen Rhythmus« erklärt die 45-jährige Spanierin. »Ich mag es, die mit einem Ort verbundenen Gefühle aufs Papier zu übertragen.« Beim Zeichnen gehe es nicht um Schnelligkeit. Aber oft genüge ihr eine halbe oder eine Stunde, um das Wesen eines Ortes festzuhalten.
Bei ihrem Besuch in Mainz hat Serrano die Teilnehmer eines Workshops im Rahmenprogramm der Ausstellung zum Zeichnen auf der Straße angeleitet. »Die Wiedergabe von Formen und Perspektiven lässt sich lernen«, erklärt die Zeichnerin. »Aber dann ist da noch die besondere Atmosphäre eines Orts, die darüber hinaus geht.«
Jede Zeichnung gebe einen sehr persönlichen Blickwinkel auf einen Ort oder das Straßenleben dort wieder, sagt auch die Kuratorin der Mainzer Ausstellung, Jenny Adam. »Beim Zeichnen nehme ich die Umgebung viel intensiver wahr«, erklärt die Mitbegründerin der Urban-Sketching-Gruppe Rhein-Main. Es gehe immer um Entscheidungen, das eine Detail wegzulassen oder ein anderes in den Blick zu rücken. Das Zeichnen in der Gruppe führe denn auch zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen.
»Die Zeichnungen sind Selbstzweck - es geht um die Erfahrung beim Zeichnen, das Ergebnis ist zunächst eher sekundär.« So beschreibt Jenny Adam das ursprüngliche Selbstverständnis der Stadtzeichner. Seit der Journalist und Illustrator Gabriel Campanario 2007 die Gruppe »Urban Sketchers« auf der Foto-Plattform Flickr gestartet hat, hat sich eine internationale Bewegung entwickelt.
Zu ihren Besonderheiten gehört nicht nur die viel ältere Tradition, hinauszugehen und im Freien zu zeichnen. Hinzu kommen der Gemeinschaftsgedanke und das Teilen der Bilder im Internet. Der Begriff Urban Sketching sei zwar nicht geschützt, aber es gebe einen Grundspirit, sagt Jenny Adam. »Wir erleben etwas gemeinsam und unterstützen einander ohne Vorbehalte. Jeder ist willkommen, mitzuzeichnen.«
Die Ausstellung in Mainz will daher auch Mut machen, selbst zum Zeichenblock zu greifen. Die in Israel lebende Sketcherin Marina Grechanik wird an der Wand mit dem Satz zitiert: »Zeichnen ist Sehen, also mach einfach die Augen auf und fang an zu zeichnen!«
Das 2013 gegründete »Chapter« Rhein-Main erreicht mit seiner Mailing-Liste etwa 120 Menschen, bei den Treffen sind etwa 15 bis 25 Sketcher dabei. Mit ihren vielen unterschiedlichen Städten gebe es in der Region immer wieder Neues zu entdecken, sagt Adam, die als Produktdesignerin und Illustratorin arbeitet. »Es ist schön, dass es dabei nicht nur einen Blick gibt.« Es sei immer möglich, dass jemand in einem Platz ein Meisterwerk der 1960er Jahre sehe, wo ein anderer nur eine Betonwüste erblicke. »Im Teilen verschiedener Sichtweisen ergeben sich Diskussionen mit der Offenheit für den anderen Blick.«
Wenn beim Zeichnen Passanten stehen bleiben, spricht Inma Serrano sie an. »So entstehen Geschichten, es geht ums Storytelling, um Reportagen«, sagt die Stadtzeichnerin, die ebenso wie Jenny Adam in dieser Woche an einem internationalen Symposium der Szene in der portugiesischen Stadt Porto teilnehmen will. »Der Zeichenblock hat mir schon viele Türen geöffnet, zu Orten wie zu Menschen.« dpa/nd
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