Frau und Kind auf hoher See sterben lassen?
Schwerer Vorwurf von Seenotrettern an libysche Küstenwache
Tripolis. Spanische Flüchtlingsretter haben vor der libyschen Küste eine tote Frau und ein totes Kleinkind in einem kaputten Schlauchboot gefunden. Eine zweite Frau wurde lebend in dem Boot entdeckt und gerettet, wie ein AFP-Fotograf am Dienstag beobachtete. Die Flüchtlingshelfer der Organisation Proactiva Open Arms warfen der libyschen Küstenwache vor, die drei zurückgelassen zu haben.
Die Küstenwache wies den Vorwurf auf AFP-Anfrage zurück. Retter der spanischen Nichtregierungsorganisation hatten das Boot, aus dem alle Luft entwichen war, etwa 80 Seemeilen (148 Kilometer) nordöstlich von Tripolis im Meer entdeckt. Die an Schock und Überhitzung leidende Überlebende und die Toten trieben auf den hölzernen Planken, die den Boden des Schlauchboots gebildet hatten. Die Retter hatten das Gebiet angesteuert, nachdem sie nach eigenen Angaben den Funkverkehr zwischen einem Schiff der libyschen Küstenwache und einem Frachtschiff über ein in Not geratenes Boot mitgehört hatten. Demnach blieb der Frachter vor Ort, bis die Küstenwache mitteilte, auf dem Weg dorthin zu sein.
Proactiva Open Arms warf den Behörden vor, andere Flüchtlinge gerettet, die zwei Frauen und das Kind aber ihrem Schicksal überlassen zu haben. Diese Darstellung wies die Küstenwache zurück. Sie sei Montagnacht zwar bei zwei Rettungsaktionen tätig gewesen. Diese hätten jedoch anderen Flüchtlingsbooten gegolten. Demnach rettete die Küstenwache in einem Seegebiet in der Nähe 165 Flüchtlinge, die schon seit mehr als zweieinhalb Tagen ohne Wasser und Essen auf dem Mittelmeer trieben. In einer weiter entfernten Region holte sie nach eigenen Angaben außerdem weitere 158 Flüchtlingen von einem anderen Boot.
Libyen ist Hauptdurchgangsland für Flüchtlinge aus afrikanischen Ländern, die über das Mittelmeer in die EU gelangen wollen. Seit dem Sturz von Machthaber Muammar al-Gaddafi 2011 herrscht Chaos in Libyen. In weiten Teilen haben bewaffnete Milizen das Sagen.
Der Kapitän des deutschen Flüchtlingsrettungsschiffs »Lifeline«, Claus-Peter Reisch, bezeichnete den Vorfall als »Mord«. Das Boot sei zerschnitten worden, sagte er am Mittwoch im Deutschlandfunk. Es werde gemutmaßt, dass die beiden Frauen sich geweigert hätten, von der Küstenwache wieder zurück nach Libyen gebracht zu werden.
Angesichts der Zustände in den libyschen Flüchtlingslagern sei das sehr gut zu verstehen, sagte Reisch dem Sender. Es handle sich um ein Verbrechen der libyschen Küstenwache. »Die lassen Leute auf dem offenen Meer zurück zum Sterben«, ergänzte er. Unter dem Kommando von Reisch war die »Lifeline« im Juni mit 234 geretteten Flüchtlingen an Bord tagelang über das Mittelmeer geirrt, weil Italien und Malta ihre Häfen gesperrt hatten. Malta ließ das Schiff später zwar anlegen, beschlagnahmte es allerdings.
Reisch muss sich wegen der Rettungsaktion in Malta vor Gericht verantworten. Der Kapitän und seine Organisation machen den EU-Staaten einschließlich Deutschland schwere Vorwürfe. Sie unternähmen mehr zur Behinderung der Seenotrettung als zum Stopp des Sterbens von Flüchtlingen auf dem Mittelmeer. AFP/nd
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