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Abschied von den Stellvertretern
Die IG Metall gibt einen Einblick in ihre Bemühungen, Beschäftigte zu organisieren
Belegschaftsumfragen, Unterschriftensammlungen, Gespräche vor den Werkstoren - mancher Bericht von betrieblichen Aktionen wirkt zunächst wenig aufregend. Aktivenkreise, die ein Flugblatt selbst verfassen? Betriebsräte, die sich an den Bedürfnissen der Beschäftigten orientieren? Was denn sonst?
Selbstverständlich ist das aber nicht. Tatsächlich verbirgt sich hinter solchen Berichten eine kleine Revolution in der Betriebsarbeit von Gewerkschaften, die zunehmend mit Routinen brechen. Sie warten nicht mehr ab, bis die Beschäftigten von sich aus zu ihnen kommen, sondern gehen selbst hin und fragen, wo der Schuh drückt. Vor allem bedeutet die neue Herangehensweise eine Abkehr von der Stellvertreterpolitik, bei der der Betriebsrat die Probleme der Beschäftigten regelt, ohne dass die etwas davon mitkriegen, aber auch, ohne sie nach ihrer Meinung zu fragen. Dies erfordert indes nicht nur auf gewerkschaftlicher Seite ein Umdenken, sondern auch aufseiten der Beschäftigten, die ihre Geschicke selbst in die Hand nehmen müssen, statt die Verantwortung auf andere zu schieben.
Unter dem Schlagwort Organizing ist dieser aus den USA stammende Ansatz in die hiesige Gewerkschaftsarbeit vorgedrungen. Vorreiterin dabei war die IG Metall und hier insbesondere der starke Bezirk Baden-Württemberg mit seinen mehr als 430 000 organisierten Metallern.
Im Kernland der deutschen Autoindustrie ist man eine schlagkräftige Organisation. Ausgangspunkt ist jedoch die Einsicht, dass man das bei einem »Weiter so« nicht bleiben wird. Dafür ist der Strukturwandel der Industrie zu groß. Die Zahl der Produktionsarbeiter wird geringer, der Anteil der traditionell gewerkschaftsferneren Angestellten in Entwicklung, Forschung und Verwaltung nimmt zu, genauso wie unsichere Beschäftigungsverhältnisse durch Leiharbeit und Werkverträge. Die wachsende Bedeutung der Logistikbranche oder das Outsourcing von Produktionszweigen setzen bisherige Strategien der Gewerkschaftsarbeit zusätzlich unter Druck.
Im Herbst 2015 hat die IG Metall Baden-Württemberg deshalb ein besonderes Organizing-Programm gestartet, das nicht wie sonst auf zwei bis drei Jahre, sondern gleich auf neun Jahre angelegt und mit einem zweistelligen Millionenbetrag unterfüttert ist. Nach dem ersten Drittel hat die Gewerkschaft nun eine Zwischenbilanz veröffentlicht, die einen Einblick in die Arbeit des »Gemeinsamen Erschließungsprojektes« (GEP) gibt. Es ist eine Art Lehrbuch geworden, in dem betrieblich Aktive, Organizer und Gewerkschaftssekretäre aus Geschäftsstellen und Bezirksleitung von ihren Erfahrungen berichten. Zum Teil ist es eine gewerkschaftliche Spezialdebatte, aber die Reflexion darüber, wie es gelingt, Menschen zu aktivieren, ist letztlich für alle interessant, die gesellschaftliche Verhältnisse verändern wollen.
In der Gesamtschau ziehen die Beteiligten eine positive Bilanz, sie verschweigen aber auch die Schwierigkeiten und Tiefschläge nicht: Widerstände in den eigenen Reihen, wenn Teams gebildet werden, die es so in gewerkschaftlichen Arbeitsabläufen noch nicht gab. Diskussionen um den hohen Ressourceneinsatz für 24 Erschließungsbeauftragte und ausgewählte Zielbetriebe, Angst bei Betriebsräten oder in den Geschäftsstellen vor Einflussverlust und Parallelstrukturen, wenn einer »von außen« kommt und einen Kampagnenplan auf den Tisch legt. Offen angesprochen werden Probleme mit Betriebsräten, die den Konflikt mit der Geschäftsleitung scheuen und deshalb beispielsweise Samstagsarbeit zustimmen. Denen sei man zuweilen auf die Füße getreten. Deutlich wird schließlich, wie anstrengend es ist, wenn man nicht einfach machen kann, sondern viele einbezogen sind. Dabei hat ein auf diesem Wege gefundenes Ergebnis auch mehr Rückhalt.
Doch erst die Reportagen aus zehn sehr unterschiedlichen Betrieben in Baden-Württemberg vermitteln tatsächlich, worum es bei dem Erschließungsprojekt eigentlich geht. Ob Daimler-Werk Stuttgart-Untertürkheim, Holzverarbeiter Dold aus Südbaden, Automobilzulieferer Magna in Neckarsulm - durch sie bekommt man eine Vorstellung von den alltäglichen Kämpfen am Arbeitsplatz und wie Menschen sich zu trauen beginnen, ihre Stimme zu erheben - das macht diese Zwischenbilanz der Gewerkschaft ungewöhnlich berührend.
Im Familienbetrieb Ernst Umformtechnik in Oberkirch zum Beispiel, der Teile für die Autoindustrie produziert und wo die Beschäftigten Jahre dafür kämpfen mussten, dass die Arbeitsklamotten vom Unternehmen gewaschen werden: Hier wurde nach einem ersten gescheiterten Anlauf schließlich doch ein Betriebsrat gegründet. Mit Unterstützung der GEP-Sekretäre bereitete ein Aktivenkreis die Wahl fast ein Jahr lang vor, »unter dem Radar«, um die Leute nicht wieder ins offene Messer laufen zu lassen. Aus anfangs sechs wurden schließlich 150 IG-Metall-Mitglieder.
In einem anderen Betrieb ziehen GEP-Sekretäre einen Konflikt um unerträgliche Hitze in den Produktionshallen mit hoch - die Klimaanlagen sind allenfalls für 30 Maschinen statt für 40 bis 50 ausgelegt. Anderswo geht es um Absicherung nach Outsourcing oder das Vordringen in Forschungsabteilungen, wo die Angestellten bislang wenig mit Gewerkschaften am Hut haben. Auch wenn es naturgemäß die ermutigenden Geschichten sind, die Eingang in ein solches Buch finden, widersteht die IG Metall der Versuchung, die Illusion einer Gewerkschaft zu schüren, die kam, sah und siegte. Die Beteiligten räumen eigene Fehler ein, wenn beispielsweise ein zuständiger Gewerkschafter erzählt: »Ich arbeite ja eigentlich nach der Art des Türeintretens: Wenn wir eine Betriebsratswahl gewonnen haben, wird die Aktivität stark reduziert, und ich gehe zum nächsten Betrieb.« Sie berichten vom Klein Klein, den Mühen der Ebene, über Konflikte und Misserfolge, wenn etwa zu einer wichtigen Veranstaltung nur eine Handvoll Leute kommt, und lassen somit keinen Zweifel daran, dass der Fortschritt eine Schnecke ist.
So trauen sich die Beschäftigten bei Liebherr in Biberach inzwischen, der Geschäftsleitung kritische Fragen zu stellen, statt das Gespräch dem Betriebsrat zu überlassen. Kleine Erfolge sind es auch beim einst gewerkschaftsfreien Familienunternehmen Dold, das jedem 200 Euro angeboten hat, der aus der IG Metall austritt und wo die Belegschaft dadurch gespalten wurde, dass Arbeitsverträge nach »Nase« geschlossen werden: Hier gibt es nun mehr Urlaubstage und verbesserte Pausenregelungen. Ein Tarifvertrag, »von dem man vor einem Jahr kaum zu träumen wagte«, erscheint jetzt machbar.
Seit dem Projektstart hat die IG Metall in Baden-Württemberg knapp 9000 neue Mitglieder gewonnen. Aber das ist nicht das einzige Ziel, wie die Beteiligten immer wieder betonen, denn es gebe gut erschlossene Betriebe, »die aber überhaupt nicht in der Lage sind, auch mal einen Konflikt einzugehen oder durchzuhalten«, wie IG-Metall-Bezirksleiter Roman Zitzelsberger in einem Gespräch im Buch einräumt. Er will in den Betrieben tatsächlich handlungsfähig werden. »Wenn Menschen erst mal erkennen, dass sie durch ihr Handeln Dinge verändern können, dann ist das der emanzipatorische Schritt«, auf den es ankomme.
IG Metall Baden-Württemberg (Hg.): Aufrecht gehen. Wie Beschäftigte durch Organizing zu ihrem Recht kommen. VSA-Verlag, Hamburg, 160 S., 16,80 €.
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