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Deutschland spricht
Andreas Koristka über die lobenswerte Initiative der »Zeit« zu zeigen, dass alle nur Menschen sind wie du und ich oder Hitler
Wer wollte sich nicht schon mal mit dem interessanten Menschen aus dem Hinterhof auf einen Schnack treffen, der sich offenbar politisch dafür einsetzt, dass in den frühen Morgenstunden die Städte mit einem Mix aus Helene Fischer, DJ Ötzi und den Böhsen Onkelz aus seinem Wohnzimmerfenster heraus beschallt werden? Wer wollte nicht schon immer wissen, ob ein AfD-Mitglied privat über ganz annehmbare Tischmanieren verfügt, ein FDP-Wähler eine hohe Erbschaft erwartet oder ob ein Holocaustleugner ein sympathisches Lächeln hat? Wie kommen diese Leute zu ihren Auffassungen? Wie ticken sie? Wann wollen sie uns unsere Hartz-IV-Bezüge streichen oder uns hinrichten lassen? Am 23. September 2018 können wir es endlich herausfinden!
Dann treffen sich im Rahmen der von der Zeitschrift »Die Zeit« initiierten Aktion »Deutschland spricht« zum zweiten Mal über tausend Gesprächsteilnehmer, um über ihre unterschiedlichen politischen Ansichten zu diskutieren. Wer teilnehmen möchte, sollte sich jetzt anmelden. Dafür muss er lediglich sieben Fragen beantworten. Danach sucht ihm eine eigens entwickelte Software einen Gesprächspartner mit einer möglichst konträren politischen Position aus der Nachbarschaft. Im weiteren Verlauf trifft man sich auf einen Kaffee, beredet dies und das und stellt am Ende fest: Der andere ist auch nur ein Mensch wie du und ich oder Hitler.
Man muss der »Zeit« dafür danken, diese wunderbare Aktion ins Leben gerufen zu haben. Denn das Blatt hat recht, wenn es feststellt, dass alles immer schlimmer wird: »Nicht nur in den USA und Großbritannien, auch in Deutschland wird der Ton in den Debatten unversöhnlicher, reden die politischen Lager zunehmend mehr übereinander als miteinander.« Vorbei sind die seligen Zeiten der Bundesrepublik, wo man noch ungeachtet seiner politischen Überzeugungen gesittet miteinander diskutierte.
Früher war eben alles besser. Wer weiß, ob die legendären gemeinsamen Skiurlaube von Franz Josef Strauß und Rudi Dutschke mit ihren ruhigen Gesprächen und dem scheuen Austausch zärtlicher Zungenküsse am Kamin in unserer heutigen Welt überhaupt noch möglich wären. Statt einander zuzuhören wie anno dazumal verfahren wir laut der »Zeit« heute ganz anders: »Standpunkte, die unseren eigenen Überzeugungen widersprechen, tun wir gerne als falsch ab oder ignorieren sie einfach. So weit, so menschlich. Allerdings wird dieser Scheuklappeneffekt zunehmend gefährlich.« Denn wir verlieren damit den Blick für den anderen Menschen! Hat nicht auch der semiprofessionelle Freefight-Sportler und ehrenamtliche Hooligan aus Chemnitz einen Punkt, den man menschlich nachvollziehen kann, wenn er dafür eintritt, politische Auseinandersetzungen nicht nur verbal zu führen? Warum geben wir ihm nicht die Möglichkeit, seine schlagkräftigen Argumente zur Kenntnis zu nehmen?
Diese eher abseitigen Meinungen gehören eben auch zu einer Demokratie. Wenn sie nicht gehört werden, droht etwas auseinanderzubrechen, für das »Die Zeit« noch kein richtig gutes Wort gefunden hat. »Volksgemeinschaft« wäre vielleicht eins. Zu der fühlt man sich in der Hamburger Redaktion nämlich nicht mehr so richtig zugehörig, seit man wie fast jedes andere Medium von AfD-Trollen und anderen rechten Spinnern vollgespamt wird. Warum sollte man diese Krakeeler ertragen und zu seinen Überzeugungen stehen, wenn man auch versuchen kann, sie zu besänftigen, indem man völlig sachlich und nüchtern im eigenen Blatt darüber diskutiert, die private Seenotrettung auszusetzen, weil jeder gerettete Flüchtling zwei neue anzieht?
Eben! Und wer diesen Sound des Blattes, sachlich im Ton, verbindlich in der menschenverachtenden Sache, nicht für ekelhaft hält, der kann das bei »Deutschland spricht« so angeben. Mit ein bisschen Glück können wir beide drüber quatschen.
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