Werbung

Durch Moskau mit offenen Augen

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

Was halten Sie von ...? Bulgakow? Keine Frage! Es war ein Erlebnis, in der Bolschaja Sadowaja 10 zur Wohnung Nr. 50 hinaufzusteigen, die im Roman »Der Meister und Margarita« eine Rolle spielt. »Was man da an den Wänden im Treppenhaus sehen kann, wäre allein schon eine Untersuchung wert«, schreibt Carsten Gansel. »Die Fans haben sie über und über mit Wünschen, Namen, Zitaten, Zeichnungen versehen.«

Wie viele Museen, wie viele Theateraufführungen hat er in Moskau besucht! Nebenbei ist er zum Kenner des Metronetzes geworden. Wie er auf eigene Faust die Stadt erkundet, hat er in diesem Tagebuch festgehalten, das vom 2. November bis 10. Dezember 2017 reicht. Beim Lesen ist man an seiner Seite, bewundert seinen Elan, wenn er zum Beispiel mit zwei sehr schweren Koffern und einem Rucksack nicht etwa ins Taxi steigt, sondern für den weiten Weg zur neuen Bleibe die öffentlichen Verkehrsmittel nutzt. Wobei die Lektüre auch dadurch besonders wird, wie sich Erlebnishaftes mit Reflektiertem mischt. Wer eine Reise tut, hat bekanntlich etwas zu erzählen. Aber nicht jedem gelingt das auf belangvolle Weise. Hier aber verbinden sich Eindrücke mit Gedanken.

Ein belesener, lebenskluger Mann: Als Professor für Neuere Deutsche Literatur und Mediendidaktik an der Universität Gießen ist Carsten Gansel seit 2012 immer mal wieder in Russland gewesen. Das hing mit Heinrich Gerlachs Roman »Durchbruch bei Stalingrad« zusammen, dessen verschollen geglaubte Urfassung er im dortigen Militärarchiv fand und im März 2017 mit einem ausführlichen Nachwort bei Galiani Berlin herausgab. Er publizierte über Brigitte Reimann (kürzlich hat er ihren Briefwechsel mit Wolfgang Schreyer herausgegeben), über Lessing und Fallada, Becher und Johnson, Christa Wolf, Erwin Strittmatter ... Beruflich mit Medienthemen befasst, beobachtet er genau, wie sich politische Zusammenhänge im öffentlichen Bewusstsein spiegeln. All das begleitet ihn auf seinen Wegen durch die russische Hauptstadt, gibt seinen eingängig geschriebenen Aufzeichnungen Tiefe und Komplexität.

Er war nicht als Tourist dort, sondern hatte an der Moskauer Universität Unterricht zu geben. Die Gespräche im Fach »Kommunikation« mit den Studentinnen dort fügen den Beobachtungen weitere Aspekte hinzu. Denn die jungen Frauen bringen ihre eigenen Sichten mit.

Muss ihnen das Hotel »Lux« ein Begriff sein? Im dortigen Gästehaus der Komintern haben Herbert Wehner und Wilhelm Pieck, Lotte und Walter Ulbricht, Becher, Bredel, Dimitroff gelebt. Gramsci, Nagy, Weinert, Friedrich Wolf mit seinen Söhnen Konrad und Markus. Und auch Waltraut Schälike, die Carsten Gansel besucht und deren Buch »Ich wollte keine Deutsche sein. Berlin-Wedding - Hotel Lux« bei mir auf dem Schreibtisch liegt. Doch zurück zu jenen jungen Frauen: Was einem persönlich wichtig ist, überlegt Gansel, muss es für andere Generationen in anderen Ländern nicht sein, so wie überhaupt »Deutschland nicht der Nabel der Welt ist«.

»Meinst du, die Russen wollen …« - der zugkräftige Titel des Bandes richtet sich an deutsche Leser; vornehmlich wohl an jene, die Jewtuschenkos Antikriegsgedicht kennen und die den derzeit so häufigen Russlandklischees in deutschen Medien zweifelnd, kritisch gegenüberstehen. Auch darum geht es im Tagebuch und darüber hinaus auch in einem längeren Gespräch, das Frank Wilhelm mit Carsten Gansel führte und das am Schluss des Bandes abgedruckt ist. Was er von Putin halte und von Nawalny, von der Ukrainekrise und der Eroberung der Krim, wird er gefragt, und er antwortet ohne Ausflüchte. Spricht auch über die Ostausdehnung der NATO, über die Skripal-Affäre, zu der es in Russland sogar schon etliche Witze gibt, und über die Präsidentschaftskandidatin Jewgenija Sobtschak, die mit ihren Vorschlägen zur Privatisierung von Staatsunternehmen und zur Abschaffung des Präsidialsystems nur 1,7 Prozent der Stimmen erhielt. »Ich glaube. man muss Russland selbst bereisen. Dann wird man sehen können, was sich seit etwa 2000 in dem Land verändert hat.« Wer sich auf hiesige Medienberichte verlassen muss, dem gibt Uwe Johnsons Romanfigur Gesine Cresspahl den Rat, »eine Sache anzusehen mit allen Ecken und Kanten, und wie sie mit anderen zusammenhängt«.

Irmtraud Gutschke

Carsten Gansel: Meinst Du, die Russen wollen …? Ein Moskauer Tagebuch. Mecklenbook. 331 S., br., 17,95 €. Foto: Carsten Gansel

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.