»Wir teilen eine Suchbewegung«

Die Autorin Luise Meier und der Literaturwissenschaftler Patrick Eiden-Offe über Klassenkampf

  • Christopher Wimmer
  • Lesedauer: 7 Min.

Sie haben zwei auf den ersten Blick sehr unterschiedliche Bücher geschrieben: eine Habilitation über die Entstehung des Proletariats im Vormärz und ein aktuelles Manifest. Was verbindet Sie?

Luise Meier: eine ähnliche Suchbewegung. Wir stellen uns beide die Frage, wie man aktuelle Arbeitsverhältnisse denken und wie Spaltung, aber auch Solidarität aussehen kann. Bei Patrick finden sich dafür viele historische Beispiele. Wir teilen auch die Überzeugung, dass Erzählungen eine Rolle spielen - auch um Widerstand zu ermöglichen.

Patrick Eiden-Offe: Und wir hängen beide am Begriff des Proletariats und versuchen ihn zu erweitern, sodass er für heute Relevanz hat.

Herr Eiden-Offe, Sie beschreiben die frühe Arbeiter*innenklasse als »buntscheckigen Haufen«. Wie wurde daraus das Proletariat?

Eiden-Offe: Die ersten Proletarier*innen, die damals in Lohn- oder Zwangsarbeit steckten, waren sehr verschieden, was ihre Tätigkeiten und Herkunft betrifft. Das verengte sich durch die Industrialisierung. Aktuell lösen sich diese klaren Klassenblöcke wieder ein bisschen auf. Daher sehe ich eine gewisse Spiegelbildlichkeit zwischen Vormärz und heute.

Meier: Trotz dieser Auflösung leben wir aber natürlich noch in einer Klassengesellschaft. Die Vorstellung vom Proletariat als homogener Masse, die in unserem Kopf herumgeistert, hat wahrscheinlich noch nie gestimmt. Man muss genau hinsehen, wie chaotisch und vielschichtig das schon immer war. Aber aus dieser Unterschiedlichkeit sind ja auch vielfältige Formen von Widerstand und Streiks erwachsen. Auch heute findet man das ja wieder: Trotz staatlicher Kontrolle und Hartz IV gibt es wieder vielfältige Formen des Widerstands.

Das Proletariat ist dem Prekariat gewichen, das keine verbindende Idee mehr hat. Kann diese durch neue Erzählungen entstehen?

Eiden-Offe: Die Gewerkschaften und Parteien der alten Arbeiter*innenbewegung gingen von einer Identifikation mit der Macht aus. ›Wir sind die, die die Welt schaffen‹ - und das stimmte ja auch. Heute muss man erst einmal die eigene Ohnmacht anerkennen. Die Welt wird nicht zusammenbrechen, wenn Fahrradkuriere oder Onlineredakteure in den Dauerstreik treten. Man muss sich politisch mit der eigenen Machtlosigkeit identifizieren, und dafür braucht es neue Erzählungen, ja.

Meier: Klassenbewusstsein ist ja etwas, das hergestellt werden muss. Es ist kein aus der Empirie abgeleiteter Fakt, sondern es ist immer auch eine schöpferische Sache, übers Proletariat zu reden. Dafür braucht es Erzählungen, in denen die konkreten Widersprüche, die wir heute erleben, auch einen Platz haben.

Kann ein Manifest, wie »MRX Maschine«, dies leisten?

Meier: Ich hab sehr intensiv nach einer Form für das Buch gesucht. Ich wollte im Schreiben klar Stellung beziehen. Das ist eine Form von Aufrichtigkeit, die mit einem politischen Standpunkt verbunden wird.

Eiden-Offe: Von Klasse zu sprechen, ist ja schon ein Standpunkt.

Meier: Ja, es steckt auch ein Interesse dahinter zu sagen, dass es angeblich keine Klassen mehr gibt. Die Entscheidung, von Klassen zu reden, ist politisch. Klasse muss aber neu gedacht werden. Es ging mir im Buch um ein Spiel mit Kategorien. Ich wollte Grenzen überschreiten und eben nicht akademisch schreiben. Wenn wir als Linke eine Vorstellung einer anderen Gesellschaft haben, muss sich das auch in unserer Praxis niederschlagen und dort auch Begriffe infrage stellen - auch den der Klasse. Es ist der Versuch, Vielfalt in den Begriffen herzustellen, die ja auch auch politisch wird, wenn sie verschiedenen Gruppen ermöglicht, sich aufeinander zu beziehen und gemeinsam zu handeln.

Was bleibt vom Klassenbegriff, wenn er so divers verwendet wird?

Eiden-Offe: Wenn man von Klasse redet, muss man auch von Klassenkampf sprechen. Früher gab es klare Gegner: Proletariat gegen Bourgeoise. Heute ist der Klassengegner die Gesellschaft selbst, die uns in die Position bringt, in der wir stecken. Deren Verteidiger*innen müssen nicht Besitzende sein.

Meier: Kaum kommt der Bausparvertrag, tritt das soziale Einverständnis ein. Auch Leute aus der Arbeiterklasse sind zufrieden und verteidigen ihren Besitz gegen Hartz-IV-Empfänger*innen. Da kommt es zu einer Spaltung, mit der Leute aus einem gemeinsamen Projekt herausgelöst werden. Es geht ja nicht darum, das Proletariat in seinem Achtstundentag mit ein paar Freizeitparks zu bedienen, sondern es abzuschaffen.

Frau Meier, Sie sprechen hierbei vom ›inneren Proletariat‹?

Meier: Es gibt in den Individuen immer auch Unstimmigkeiten und Widerstände, die man wecken kann. Das sind Teile eines Menschen, die rebellieren und streiken können.

Eiden-Offe: Im Neoliberalismus sollen wir ja alle Unternehmer des Selbst sein und uns ständig verwerten. Da finde ich es spannend, von einem proletarischen Selbst zu sprechen, das genau dagegen kämpft. Der Klassenkampf richtet sich damit in erster Linie gegen einen selbst, gegen die Teile in einem selbst, die es sich bequem gemacht haben, gegen den eigenen Opportunismus und die einwilligende Identifikation mit dem Bestehenden. Klassenbewusstsein hat ja auch viel mit Leidenschaften und Affekten zu tun. Hier ist wieder die Geschichte spannend. Gerade in der Arbeiter*innenbewegung des Vormärz ging es nicht nur um das Überleben, sondern der Anspruch war: »Ich will so nicht leben. Ich will etwas anderes.« Daran sollte man erinnern.

Meier: Wir müssen die Vorstellungskraft aktivieren, wie ein anderes, gutes Leben aussehen könnte. Da gehört ganz viel dazu: Mieten, Arbeiten, Geschlecht, Pflege - all das muss anders organisiert werden.

Dazu braucht es neue Formen des Klassenkampfs. Frau Meier, Sie schreiben von der Sabotage, dem Streik und dem »Fuck-up«, also dem »Arschlecken« in allen Bereichen ...

Meier: Das ist eine Maximalforderung. Ich will daran erinnern, das große Ganze zu verändern. Dazu gehört auch ein gewisses Maß an Irresein, Verrücktheit und Breitschaft zu scheitern. Der Fuck-up ist dabei auch eine sprachliche Grenzüberschreitung, die den Widerspruch zur bürgerlichen Moral sucht.

Eiden-Offe: Heute geht es darum, dass der gesamte Mensch in den Arbeitsprozess eingespannt wird. Im Vormärz war es noch undenkbar, das Leben derart an die Lohnarbeit zu koppeln. Mit diesen Zumutungen konnten sie damals gar nichts anfangen. Da finden sich auch Anknüpfungspunkte.

Ist der Ab-Fuck der Klassenkampf im 21. Jahrhundert?

Meier: Ich sehe schon, wie eine kleinbürgerliche Moral immer mehr ins Alltagsdenken eindringt. Das gilt es aufzulösen. Es gibt ja auch genügend Widerstandspotenzial in den Leuten, eine Lust auf die Rebellion: Niemand will doch wirklich am Montag um neun Uhr zur Arbeit.

Eiden-Offe: Es kann heilsam sein, Teile in sich selbst abzufucken: bürgerlichen Unternehmergeist oder das Festhalten an Regeln, die man eigentlich falsch findet.

Wie verhält sich das zu Verantwortlichkeit im Sinn von Solidarität?

Meier: Die Frage ist ja, wo das ansetzt. Ich will die staatliche und bürgerliche Ordnung abfucken und natürlich eben nicht meine Freunde oder Genossinnen. Aus einem feministischen Impuls ist mir das total wichtig. Gerade Frauen sind über Zuverlässigkeit und Verantwortung für Kinder oder Familie ständig erpressbar. Ein Abfucken der bürgerlichen Frauenrolle ist da doch legitim. Auch geht darum, in der Verwaltung, in der Uni, im Job Regeln nicht einzuhalten und dadurch permanent zu strapazieren und praktisch infrage zu stellen. Ich will eine Normalität des Regelbruchs erreichen, der dann auch kollektiv und solidarisch werden muss.

Also der Abbau von Basisloyalitäten und Solidarität gegenüber einer bürgerlichen Zuverlässigkeit?

Meier: Fuck-up und Solidarität gehören zusammen. Wenn ich mir eine andere Gesellschaft vorstelle, müssen aber gewisse Formen der Zuverlässigkeit, der Leistung, die in dieser Gesellschaft gelten, verschwinden.

Eiden-Offe: Fuck-up ist ja nicht immer asozial und egoistisch: Das kann auch kollektiv und solidarisch werden. Im Kapitalismus schädige ich eher andere, wenn ich dauernd nach den Regeln spiele und alles zuverlässig erledige, weil dadurch das Bestehende erhalten bleibt.

Patrick Eiden-Offe: Die Poesie der Klasse. Romantischer Antikapitalismus und die Erfindung des Proletariats, Matthes & Seitz 2017, 30 Euro. Luise Meier: MRX Maschine, Matthes & Seitz 2018, 9,99 Euro.

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