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Serie »American Primeval«: Wie ein Snuff Movie
Die Netflix-Serie »American Primeval« ist ein dreckiger Western mit Hang zur Überästhetisierung
Von den gebügelten, schweißfleckenlosen Oberhemden, die John Wayne in den Hollywood-Western der 1940er und 50er Jahre trug, ist hier nicht mehr viel übrig. Und auch die rosigen, glattrasierten Gesichter aus der frühen Farbfilmzeit des US-amerikanischen Westerns sind verschwunden. Hier wird in die Kamera geschwitzt und geblutet, und die Schlammkrusten und Dreckstreifen auf den nackten Oberkörpern der Männer kann man geradezu riechen, so bildet man sich beim Zuschauen ein. Außerdem ist es kalt und regnerisch. Hier wird nicht mit einem Liedchen auf den Lippen in den Sonnenuntergang geritten, hier wird im Dreck gestorben.
Die sechsteilige Western-Serie »American Primeval« (»Vorzeitliches Amerika«), die seit Kurzem auf Netflix gestreamt werden kann, treibt auch die Ästhetisierung von Gewalt ziemlich weit, allerdings mit der Betonung auf »Ästhetisierung«. Soll heißen: Gern wird hier, wie man das aus den guten B-Pictures und Exploitation-Filmen der 70er und 80er Jahre kennt, in Großaufnahme die offene Stelle gezeigt, aus der der Knochen aus dem gebrochenen, blutverkrusteten Bein ragt, oder es wird vorgeführt, wie eine zur Hälfte abgesäbelte Kopfhaut wieder angenäht wird (ohne Betäubung des Patienten, versteht sich). Eines der filmischen Vorbilder von »American Primeval« war gewiss der Spätwestern »Soldier Blue« (»Das Wiegenlied vom Totschlag«) aus dem Jahr 1970, der mit traditionellen Hollywood-Western-Erzählklischees brach und stereotypisierte Darstellungen (gute US-Armee/böse »Indianer«) zu vermeiden suchte – und der in der filmischen Inszenierung kriegerischer und roher Gewalt einen Schritt weiter ging als bis dahin üblich.
Insoweit ist diese Serie eine schöne Allegorie auf die Entstehung und Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus.
Nun könnte der Betrachter sagen: »Schlimm! Übertriebene Gewaltdarstellung! Muss man solche Serien drehen?« Doch wie schreibt Elfriede Jelinek so treffend in ihrem frühen Roman »Michael«: »in wirklichkeit ist es gar nicht so schlimm. in wirklichkeit ist es schlimmer.« Weil die tatsächliche Grausamkeit und das Elend nicht auf unterhaltsame Art abbildbar sind, sondern stets als farbenfrohes und emotional aufgeladenes Spektakel dargestellt werden müssen, um kulturindustriell verwertbar zu sein, muss die Gewaltdarstellung auch in dieser Serie stets eine dekorative sein. Und der vermeintliche Realismus, wenn etwa die Tötung von Frauen oder Kindern inszeniert wird, ist keiner, sondern eben: eine Inszenierung, die vor allem am Schauwert interessiert ist: effektvoll fallende Körper, eine lärmende Tonspur, liebevoll und großzügig verteiltes Kunstblut, anschauliche Gore-Effekte. Derlei Hokuspokus wird hie und da gern mit »historischer Authentizität« verwechselt.
Die Geschichte von »American Primeval« spielt im Jahr 1857 während des sogenannten Utah-Krieges, als mormonische Pioniere, Soldaten der US-Armee und amerikanische Ureinwohner einander ohne Schonung bekämpfen. Es geht um die allgegenwärtige Gewalt, die ausgeübt wird, die mit der Gründung einer Nation einhergeht: Es ist ein Krieg aller gegen alle, und jeder ist sich selbst der Nächste. Die Armee führt Krieg gegen die Mormonen-Milizen, die aus den USA einen Gottesstaat machen wollen; die Mormonen-Milizen führen Krieg gegen die US-Armee und gegen unerlaubt durch ihre Ländereien reisende Siedler; und alle gemeinsam führen Krieg gegen die Ureinwohner, die »Wilden«. Dazwischen treiben sich obendrein allerlei Banditen, Psychopathen, Kopfgeldjäger und Outlaws herum, die nur an Geld und ihrem eigenen Fortkommen interessiert sind. Insoweit ist diese Serie eine schöne Allegorie auf die Entstehung und Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus.
Mitten in diesem Getümmel müssen natürlich unsere Identifikationsfiguren noch Platz finden: eine Frau (die gute Heldin) und ihr kleiner Sohn auf der Flucht vor Bösewichtern, die ihnen nach dem Leben trachten, und ein maulfauler, verschlossener Mann (der gute männliche Held), der nach jenen maulfaulen, verschlossenen männlichen Helden modelliert ist, die früher Clint Eastwood verkörperte. So platt und eindimensional und zeitweise pathetisch das alles ist, so wirkungsvoll ist es auch, weswegen die Einordnung der Serie als »authentisch« oder »realistisch« natürlich falsch ist. Das Gegenteil ist der Fall, hier herrscht das Gesetz der Pulp Fiction: Thrill folgt auf Thrill, reißerische Action, gelungene Ausbeutung der Schau- und Angstlust. Ein bisschen wie ein Snuff Movie, aber mit Spitzenkameraarbeit und erstklassiger Bildgestaltung.
Verfügbar auf Netflix
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