- Kultur
- DDR-Kultur
Buch der Signale
»Die Allee« von Florentine Anders ist ein fulminanter Familienroman mit und um Hermann Henselmann
Verzweifelt lief Isa Henselmann im Spätsommer 1960 in Ostberlin auf die Kreuzung Frankfurter Tor, einem himmelblauen Trabant entgegen. Beim Aufprall wurde »nur« ihr linkes Bein verletzt und blieb seitdem kürzer als das rechte. Dass sie hätte tot sein können, dieser Gedanke wird Florentine Anders gekommen sein, denn dann wäre sie selbst nie geboren worden. Sie ist die Tochter von Isa, die wiederum die Tochter von Hermann und Irene »Isi« Henselmann ist. Hermann hat unter anderem die Bebauung am Frankfurter Tor geplant, in den 50er Jahren.
Doch nach dramatischen Szene zu Beginn ihres Buchs »Die Allee« wird erst mal ins Jahr 1931 geschwenkt, in dem sich Isi mit gerade einmal 16 in den zehn Jahre älteren Architekten Hermann Henselmann verliebt. In kurzen, chronologisch geordneten Kapiteln lässt Florentine Anders die Geschichte ihrer großen Familie Revue passieren. Detailliert und anschaulich erzählt sie, spannend bis zum Schluss. Es ist ihr erstes Buch und sehr gelungen. Gerade Familiengeschichten sind ja von Langatmigkeit bedroht und können, je weiter sie verzweigt sind, auch unübersichtlich werden.
Aber machen wir uns nichts vor: Es ist erst mal die Strahlkraft eines bekannten Namens, die uns in die Lektüre zieht. Beim Titelbild habe ich an das berühmte Dreierbild von Marx, Engels und Lenin gedacht, nur dass Hermann Henselmann von zwei lachenden selbstbewussten Frauen flankiert wird. Da hat die begnadete Buchgestalterin Kat Menschik gleich deutlich gemacht, worum es im Roman geht: um Eigensinn männlicher wie weiblicher Ausprägung. Mit ins Bild brachte sie Henselmanns Entwürfe in der DDR: in Berlin das Hochhaus an der Weberwiese, das Haus des Lehrers mit der Kongresshalle, die Bebauung des Leninplatzes und in Leipzig das Uni-Hochhaus. Nicht zu vergessen den »Turm der Signale« als Vorlage für den Fernsehturm.
Wer immer sich für die DDR interessiert – noch oder erst jetzt – kommt an diesem Buch nicht vorbei. Es ist ein Buch der Signale. Einen besseren Titel als »Die Allee« hätte es nicht geben können. Bis 1961 hieß die heutige Karl-Marx-Allee Stalinallee, an ihrer Bebauung war Hermann Henselmann beteiligt. Aus seiner Geschichte und der ihrer Großmutter und ihrer Mutter hat Florentine Anders einen Gesellschaftsroman geschaffen, der von 1931 bis 1995 reicht.
Hermann Henselmann ließ sich nie unterkriegen, suchte und fand immer wieder Wege, seinem Talent treu zu bleiben. Der 1905 geborene Sohn eines Bildhauermeisters strebte in die internationale Architektengilde, musste aber bald mit Zuständen zurechtkommen, die seinen kosmopolitischen Ambitionen widersprachen. Nicht nur wegen seiner jüdischen Wurzeln geriet er mit dem NS-Regime aneinander. Nach Kriegsende kam er als Stadtbaurat nach Gotha, ab 1946 als Direktor der Hochschule für Baukunst und Bildende Künste nach Weimar, ab 1949 nach Berlin als Abteilungsleiter im Institut für Bauwesen der Akademie der Wissenschaften. In herausgehobenen Positionen fühlte er sich aber die ganze Zeit in seinem architektonischen Ehrgeiz auch ausgebremst und musste Kompromisse eingehen. Da hat Florentine Anders etwas ergründet, was typisch für viele war, die in der DDR schöpferisch arbeiten wollten.
17. Juni 1953, Mauerbau, 11. Plenum, »Prager Frühling«, Biermann-Ausbürgerung – das sind Stationen der Zeitgeschichte im Ensemble realer Personen: Ulbricht, Honecker, Brecht, Robert Havemann, der durch die Heirat mit Isas Schwester Karin mit zur Familie gehörte, Manfred Krug, Alex Wedding, Brigitte Reimann, der Jazzmusiker Hermann Anders (hier nur Hermi genannt), Benno Pludra – das MfS-Interesse an diesem illustren Kreis eingeschlossen. Hinzu kommt so gut wie alles, was Frauen widerfahren kann: Vergewaltigung, Abtreibung, männlicher Verrat.
Isi wollte eigentlich auch Architektin werden, doch sie bekam acht Kinder. Ihre Tochter Isa hatte fünf, mit denen sie zeitweise allein dastand. Man überlegt, wie männliche Dominanz ihre Spuren hinterlässt. Hermann Henselmann war charismatisch, als Familienoberhaupt verantwortungsbewusst, aber auch cholerisch, ja mitunter gewalttätig. Er brauchte das Herausfordernde und blieb in seinem Innern frei. »Man kann jede Wand zum Einsturz bringen, man muss nur lange genug dagegenlaufen«, wird er im Buch zitiert. Seiner Enkelin ist es gelungen, einen dynamischen, widersprüchlichen Charakter vor uns hinzustellen. Warum man ihn lieben konnte, verstehe ich wohl.
Florentine Anders: Die Allee. Galiani Berlin, 352 S., geb., 24 €.
Buchvorstellung am 18.3. um 18 Uhr im Literatursalon im FMP1, Franz-Mehring-Platz 1, Berlin
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.