Als Gewinn unfein wurde

Die uneingelösten Reformvorstellungen von Ökonomen in der DDR und ČSSR

  • Jörg Roesler
  • Lesedauer: 7 Min.

Die Aussichten auf Verwirklichung der Reformkonzepte, die die Wirtschaftswissenschaftler der DDR und der CSSR in der ersten Hälfte der 60er Jahre entwickelt hatten, konnten kaum unterschiedlicher sein. Ota Šik war der einflussreichste tschechoslowakische Wirtschaftswissenschaftler. Er hatte 1961 die Leitung des Ökonomischen Instituts der Akademie der Wissenschaften in Prag übernommen und wurde im April 1968 vom neuen KSČ-Vorsitzenden Alexander Dubček zum »Koordinator der Wirtschaftsreformen« und stellvertretenden Ministerpräsidenten ernannt. Wenige Tage nach dem Einmarsch der Truppen der Warschauer Vertragsstaaten in die ČSSR wurde er seiner Ämter enthoben und musste ins Schweizer Exil fliehen. In der DDR lief dagegen die 1963 als »Neues Ökonomisches System« (NÖS) eingeleitete Wirtschaftsreform unangefochten weiter - entsprechend den im Herbst 1967 beschlossenen Grundsätzen für eine zweite Reformetappe, die ÖSS (Ökonomisches System des Sozialismus) genannt wurde.

Begonnen hatten die Reformen in beiden Ländern annähernd gleichzeitig. Ota Šiks wirtschaftstheoretische Arbeit »Ökonomie. Interessen. Politik« war 1962 erschienen. Sie war zu diesem Zeitpunkt die kritischste Betrachtung der Ökonomie im »sozialistischen Lager«. Das Buch wurde auch in der DDR verlegt und in der Folgezeit mit Vorrang in die Lehrmaterialien für Studenten der »Politischen Ökonomie des Sozialismus« aufgenommen.

Im Herbst 1962 wurde in der Sowjetunion unter Parteichef Nikita Chruschtschow eine Diskussion über die Vorschläge des sowjetischen Ökonomen Jewsei Liberman zur Reform der ökonomischen Mechanismen geführt. Diese Debatte erhöhte in den Parteiführungen der DDR und ČSSR die Bereitschaft, auf die Forderungen der Wirtschaftswissenschaftler einzugehen. Libermans Leitsatz »Was der Gesellschaft nützt, muss auch den Betrieben nützen« wurde als Plädoyer für mehr Selbstständigkeit und Stärkung der »materiellen Interessiertheit« der Betriebe in der DDR und ČSSR auch von der Politik akzeptiert.

Für die DDR hatte daran Wolfgang Berger wesentlichen Anteil. Der Wirtschaftswissenschaftler war ein langjähriger persönlicher Berater Walter Ulbrichts. Er erreichte, dass mit Erich Apel und Günter Mittag zwei von der Notwendigkeit der Reformierung der DDR-Wirtschaft überzeugte Männer die Möglichkeit erhielten, ihre Vorstellungen über das NÖS ab 1963 in einer Reihe von Broschüren zu veröffentlichen. Ihre Publikationen wurden rasch zur Pflichtlektüre. Gleichzeitig übernahmen die beiden Autoren verantwortliche Positionen in der Exekutive. Apel avancierte zum Leiter der Staatlichen Plankommission der DDR.

In der ČSSR wurde ein von Wirtschaftswissenschaftlern unter Leitung von Šik ausgearbeitetes Reformkonzept erstmals im Oktober 1964 der tschechoslowakischen Öffentlichkeit vorgestellt. Nach intensiver, teilweise auch kontroverser Diskussion wurde es im Januar 1965 vom ZK der KPČ akzeptiert und in einer Grundsatzresolution als »Neues Ökonomisches Modell« angenommen. Der prominente Prager Wirtschaftshistoriker Vaclav Prucha hat dieses Modell als »Symbiose von Plan und Markt« gekennzeichnet, eine Charakteristik, die meines Erachtens auch auf das NÖS zutraf.

Allerdings bewegten sich die Wirtschaftsreformen in beiden Ländern nicht mit gleicher Geschwindigkeit. Während Ulbricht mit der Eingliederung von Apel und Mittag in die Wirtschaftsführung gewissermaßen zum Chefreformer avancierte, hielt der damalige Vorsitzende der KPČ, Antonin Novotny, gegenüber den Reformern einen gewissen Abstand. Unter ihm gab es nicht, wie bei Ulbricht, eine zentrale »Arbeitsgruppe Wirtschaftsreform«. Außerdem wurde bei der schrittweisen Einführung der Reform, die beide Länder gleichermaßen befürworteten, weniger Wert auf Experimente gelegt. Die tschechoslowakischen Wirtschaftswissenschaftler, allen voran Ota Šik, wurden angesichts Novotnys zögerlicher Reformpolitik zunehmend unzufrieden.

Die grundsätzliche Lösung könne - so argumentierten sie - nicht in einer verbesserten Auflage eines technokratischen Reformkonzepts liegen, sondern im Auswechseln von Personen und einer Veränderung der gesamten Struktur des politischen Systems. Wie viele ursprünglichen »Nur-Wirtschaftsreformer« plädierte nunmehr auch Šik dafür, »die Gesellschaftsordnung zu einer echten Demokratie zu machen und den freien Ideenkampf wieder walten zu lassen«. Der tschechische Wirtschaftswissenschaftler wurde zum Verbündeten der politischen Reformer innerhalb der KPČ-Führung, die Anfang 1968 die Absetzung Novotnys und die Ernennung des reformwilligen Alexander Dubček zum KPČ-Chef durchsetzten. Kein Wunder also, dass Šik das im April 1968 verkündete »Aktionsprogramm der KPČ« bereits in Staats- und Parteifunktionen mittrug. Darin war formuliert: »Die unterschiedlichen Interessen sozialer Gruppen und Einzelner sowie ihre Vereinigung zu Geltung zu bringen erfordert, ein neues politisches System unseres Lebens, ein neues Modell der sozialistischen Demokratie auszuarbeiten und anzuwenden.«

Verglichen mit dieser Auffassung der KPČ unter Dubček, erinnerte die Vorgehensweise Ulbrichts in der DDR gegenüber den Wirtschaftswissenschaftlern und anderen Reformverfechtern eher an die Haltung eines aufgeklärten Monarchen, der interessante Reformvorstellungen in sein Konzept aufnimmt und gebührend zu berücksichtigen verspricht. Ulbrichts eher technokratisches Herangehen wurde von den Wirtschaftswissenschaftlern weitgehend akzeptiert und - zum Beispiel von Otto Reinhold - gelobt.

Ulbrichts - wenn auch zögerliche und halbherzige - Unterstützung des Einmarschs der Truppen des Warschauer Vertrags in die Tschechoslowakei hatte auf den ersten Blick keinen Einfluss auf den weiteren Verlauf der Wirtschaftsreform in der DDR. Das ÖSS galt weiterhin. Doch sah sich der Erste Sekretär des ZK der SED einer an Einfluss gewinnenden Gruppierung innerhalb der SED-Führung gegenüber, die die Reform ablehnte. Zwar hatte das Politbüro der SED das NÖS, mit dem Ulbricht einen Überraschungscoup gelandet hatte, 1963 einmütig gebilligt. Doch fand sich rasch unter dem für die Sicherheit verantwortlichen Parteifunktionär und designierten Nachfolger Ulbrichts, Erich Honecker, eine Opposition in der SED-Spitze zusammen, die sich zunächst gegen jegliche Übertragung des Reformkonzeptes auf andere Herrschaftsbereiche, insbesondere auf Kunst, Kultur und Jugendpolitik, und schließlich gegen die Wirtschaftsreform selbst wandte. Sie begrüßte auch das Vorgehen der Warschauer Vertragsstaaten gegenüber Dubček.

Ulbricht sah sich gezwungen, die Gegenströmung zu berücksichtigen und vom ÖSS intern Abstriche zu machen. 1966 hatte sich Ulbricht noch János Kádár gegenüber gebrüstet, Ziel der Umgestaltung des Systems der Planung und Leitung in der DDR sei es, »ein solches sozialistisches Wirtschaftssystem aufzubauen, das eine gewisse Selbstregulierung gewährleistet«. Im Oktober 1968 sah sich der SED-Chef dagegen veranlasst, von Wirtschaftswissenschaftlern wie Gunther Kohlmey abzurücken, die gerade zu diesem Zweck ökonomische und kybernetische Untersuchungsmethoden miteinander verbanden. Kohlmey wurde scharf gerügt. Das Nachgeben des Ersten Sekretärs der SED gegenüber den Reformgegnern setzte sich in den folgenden Jahren fort.

So kam es, dass bei einem Zusammentreffen Ulbrichts mit einer Gruppe von Wissenschaftlern und Technikern im September 1970 Wolfgang Berger eine zunehmende Amputierung des ÖSS beklagte: »Ich möchte hier auf ein Problem eingehen, das ich selber als ziemlich bitter empfinde. Ich möchte hier die Behauptung aufstellen, dass wir vom Standpunkt des Ökonomischen Systems uns nicht nur einiges Wissen neu erwerben müssen, sondern dass wir auch wiederherstellen müssen, was wir schon einmal gehabt haben. Wer nimmt bei uns noch gern den Begriff ›Gewinn‹ in den Mund? Ich habe den Eindruck, dass es unfein geworden ist, über Gewinn zu sprechen.«

Die im Frühherbst 1970 von den Reformgegnern innerhalb des Politbüros noch hinter vorgehaltener Hand geübte Kritik an Ulbrichts Wirtschaftspolitik wurde auf dem 14. Plenum des ZK der SED im Dezember 1970 öffentlich. Honecker hatte sich zuvor der Unterstützung der sowjetischen Parteiführung unter Chruschtschows Nachfolger Leonid Breschnew vergewissert. Am 3. Mai 1971 verzichtete Ulbricht schließlich auf die Funktion des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees der SED. Der gewichtigste Befürworter der Symbiose von Plan und Markt der DDR teilte von nun ab das Schicksal Dubčeks. Er hatte keinen Einfluss mehr auf das Geschehen im Land.

Fazit: Mochten die Konzepte der Wirtschaftswissenschaftler der DDR und der ČSSR auch den Anstoß dafür gegeben haben, dass und in welcher Richtung die Wirtschaftsreformen begannen, so entschieden über deren Umsetzung letztlich allein die Politiker. Das bekam nicht nur Ota Šik zu spüren. Auch Wolfgang Berger und Herbert Wolf, zwei der standhaftesten DDR-Wirtschaftsreformer, wurden noch vor dem VIII. Parteitag der SED im Juni 1970, der ganz Honeckers Parteitag werden sollte, aus ihren Funktionen entlassen.

Der Wirtschaftshistoriker Prof. Dr. Jörg Roesler (Jg. 1940) lehrte an der Humboldt-Universität zu Berlin, an der McGill University in Montreal und an der Portland State University in den USA; er war an der Akademie der Wissenschaften der DDR tätig und ist Mitglied der Leibniz-Sozietät.

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