Auf dem Schrottplatz der Leidenschaften

Die 25. Erfurter Domstufen-Festspiele glänzen mit einer bilderstarken »Carmen«

  • Roberto Becker
  • Lesedauer: 3 Min.

Erfunden hat der Erfurter Generalintendant Guy Montavon die Domstufen-Festspiele in Erfurt ja nicht. Aber er hat dieses Event-Erbstück, das er bei seinem Amtsantritt 2002 vorfand, sorgsam gepflegt und als Marke für Erfurt dauerhaft etabliert. Sie gehen jetzt schon zum 25. Mal über die Bühne beziehungsweise die 70 Treppenstufen vor Mariendom und Severikirche rauf und runter.

Mit einem großen Opern- oder Musicalspektakel startet Erfurt so mitten in der Sommerpause traditionell vor allen anderen die neue Spielzeit. Diesmal fuhr der Intendant und Regisseur der »Carmen«, passend zum spektakulären Bühnenbild, in einem Oldtimer-Mercedes Diesel - wie ihn einst Konrad Adenauer nutzte - vor, um Festspiele und Spielzeit zu eröffnen. Nicht ohne - frei nach der gerne polemisch gestellten Frage: »Ist das Kunst oder kann das weg?« - klarzustellen, dass das, was hinter ihm zu sehen ist, Kunst sei, also da bliebe.

Und recht hat er. Es ist in Erfurt nicht anders als bei den Bregenzer Festspielen am Bodensee: das Bühnenbild entscheidet. Man muss also mit der einen großen Metapher einen optischen Volltreffer landen, der dann nur noch ausgefüllt werden muss. Musikalisch muss man der Freiluft geschuldet Abstriche hin und beim Wetter sogar das Risiko in Kauf nehmen, dass es (wie im letzten Jahr) keine Rücksicht auf den Spielplan nimmt und auch mal eine Vorstellung verregnet.

Ausstatter Hank Irwin Kittel ist an der Erfurter Oper der Mann, der für diese Art von Bühnenwelten zuständig ist. Was er diesmal auf den Dom᠆stufen zusammengekarrt hat, hat tatsächlich etwas von der Autonomie eines eigenständigen Kunstwerkes.

Ein Autofriedhof aus gefühlt drei Dutzend Wracks neben- und übereinandergestapelt. Dazwischen vier mehr oder weniger ramponierte Wohnwagen. Davor Autos mit der Aufschrift »Policia« - die Assoziation zu einem Roma-Camp liegt nahe. Die braven Bürger kommen und gaffen. Die wachsamen Ehefrauen schnappen ihre Ehemänner, wenn die von der fremdartigen jungen Frau, die da von der Liebe singt, die wie ein freier Vogel ist, mehr fasziniert sind, als sie sollten.

Für eine andere Randgruppe, die reichen Blondinen mit den roten Lackstiefeln und zu kurzen Röcken, ist ein Fightclub-Event im Freien, hinter Bauzäunen am Rande des Lagers, offenbar genau der richtige Kick, bevor es in die nächste angesagte Disco geht.

Montavon trifft sowohl mit dem Verhalten der braven Bürger (das der Erfurter Opernchor und die Statisten stilecht inszenieren) als auch mit den Protagonisten einer auf Events versessenen Gesellschaft und ihrer Nähe und Distanz zu den »Fremden« ziemlich genau die Verunsicherung, die heute vorherrscht, wenn diese besondere Gruppe von EU-Bürgern in einer Stadt auftauchen. Insofern ist diese »Carmen« ziemlich politisch geraten. Montavon hält aber dennoch die Balance zum Opern-Sommervergnügen, die die »Carmen« ja auch sein soll.

Für den neuen Erfurter Generalmusikdirektor Myron Michailidis ist »Carmen« gleichsam sein Einstand. Er überzeugt nicht nur mit seiner Lesart der französischen Spanienoper schlechthin. Er bewältigt auch die - teilweise riesigen - Distanzen, die zwischen dem Orchester im Container (hier zugleich die Policia-Station) und den Sängern, die über Mikroports verstärkt werden. Da gibt’s noch Luft nach oben. Der Carmen von Katja Bildt nahm die Tonanlage einen Teil ihrer Wirkung.

So wurden der kraftvolle Don José Won Whi Choi und die beeindruckend lyrisch klare Margrethe Fredheim als Micaëla die gefeierten Stars der Premiere. Wobei Micaëla sowieso die Einzige ist, die nach den Maßstäben bürgerlicher Vernunft nachvollziehbar tickt.

Mandla Mndebele ist als Torero-Catcher optisch eine imponierende Erscheinung, kommt aber in der vokalen Attacke an seine Grenzen. Mit den übrigen Rollen (und auch Mehrfachbesetzungen der Hauptpartien) hat die Oper Erfurt kein Problem.

Der von Andreas Ketelhut einstudierte Chor bewährt sich in den blauen Uniformen der Polizei ebenso wie als Schmuggler, fahrendes und Bürgervolk.

Bis zum 26. August

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