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»Eine Hemmschwelle gibt es nicht mehr«
Chemnitz: Dem Schulterschluss der Rechten folgten Übergriffe auf Journalisten, Geflüchtete und Antifaschisten
Für einen Moment sieht es aus, als ob es gleich richtig eskalieren könnte. Als gegen 20 Uhr am Samstagabend die Polizei in Chemnitz aufgrund von Blockaden den rechtsradikalen »Schweigemarsch« auflöst, liegt blanker Hass in der Luft. Die AfD-Demospitze um Björn Höcke, thüringischer Chef der Rechtsaußenpartei und Wortführer des völkischen Flügels, zieht sich zurück, dafür kommen nun wütende rechtsradikale Hooligans nach vorne. »Widerstand«, »Lügenpresse«- und »Wir sind das Volk« rufen sie und gehen auf Polizisten und Journalisten los, werfen Flaschen, schlagen zu, umzingeln Wasserwerfer und Räumpanzer. Die zügig aufgestellte Polizeikette wird an mehreren Stellen von dem aufgepeitschten Mob durchbrochen. Viele Rechte sind mittlerweile vermummt.
Nur mit Mühe können Beamte, auch mit Hilfe von Reiterstaffeln, ein weiteres Vordringen der Masse in Richtung des Ortes verhindern, wo der 35-jährige Daniel H. ermordet wurde. Wirkliche Kontrolle erlangt die Polizei jedoch nicht. Die Situation bleibt chaotisch und angespannt. Viele Rechte fahren nach Hause, aber einige Gruppen von Neonazis ziehen ungehindert durch die Straßen. Ein ARD-Kamerateam wird am Tatort angegriffen. Vermummte schlagen einen Geflüchteten, den Afghanen Saifullah Z., brutal zusammen. Nazis überfallen eine Besuchergruppe des SPD-Bundestagsabgeordneten Sören Bartol auf dem Weg zu ihrem Bus. Derweil hält die Polizei rund 250 Gegendemonstranten mehrere Stunden in einem Kessel fest.
Nachmittag, 16 Uhr. In der Nähe des Bahnhofs haben sich rund 3500 bunt gemischte Demokraten und Antifaschisten zur »Herz statt Hetze«-Kundgebung versammelt. Rund 70 Organisationen, einschließlich der lokalen CDU, stehen hinter dem Aufruf, verschiedene Bundespolitiker wie SPD-Vizechefin Manuela Schwesig, LINKE-Fraktionschef Dietmar Bartsch und die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock sind gekommen. Barbara Ludwig (SPD), die Oberbürgermeisterin von Chemnitz, beklagt den Mord an Daniel H. und fordert gleichzeitig auf, sich »mit allen Mitteln des Rechtsstaates« den Hetzern entgegenzustellen. Rund 1500 weitere Antifaschisten erreichen unter Jubel und kämpferischen Parolen die Versammlung, sie sind aus Leipzig, Dresden und anderen Städten angereist. Der eher bürgerliche Teil des Protestes hört den Reden und Konzerten auf der Kundgebung zu, der radikalere versucht, auf die Strecke des rechten Aufmarsches zu gelangen. Gruppen von Antifaschisten liefern sich immer wieder kleinere Auseinandersetzungen mit Neonazis und Polizisten, bald stehen zwei Blockaden mit Hunderten Menschen.
Unweit davon, am Karl-Marx-Denkmal, sammeln sich mehrere Tausend Rechtsradikale bei der Kundgebung der Wählervereinigung »Pro Chemnitz«. »Heute sind wir nicht Gesinnung, Heute sind wir das Volk! Also bindet Euren rechten Arm fest!«, ruft ein Einpeitscher. Die angekündigte Demonstration wird kurzerhand abgesagt, stattdessen zieht man zum nahe gelegenen Startpunkt des »Trauermarsches« von AfD und Pegida. Bürgerliche Rechtsradikale sammeln sich nun mit gewaltbereiten, betrunkenen Hooligans, der Schulterschluss der rechtsradikalen Szene Deutschlands auf der Straße ist vollzogen. Als die jetzt rund 5000 Teilnehmer losmarschieren, bilden AfD-Politiker um Höcke die Spitze. Alle tragen eine weiße Rose »als Zeichen der Trauer« am Jackett. Die ersten Reihen halten dazu Bilder von Opfern vermeintlicher Migrantengewalt. Nach rund einem Viertel der Strecke, wieder am Marx-Monument, kommt der Zug aufgrund der Blockaden zum Stehen. Ein Mann stößt ein Kamera-Team des MDR in einem nahegelegenem Wohnhaus die Treppe herunter, der Reporter muss ins Krankenhaus.
Der Abend soll noch lang werden. Die Polizei meldet später 25 Straftaten, neun Verletzte und einen »relativ friedlichen Verlauf«. Sie war mit 1800 Beamten im Einsatz. Die Einschätzung fällt nicht überall so positiv aus. »Noch nie habe ich so viel Hass auf Medien erlebt wie an diesem Wochenende in Chemnitz«, sagt der ARD-Journalist Georg Restle. »Während Nazis durch die Stadt marodieren, werden Linke festgehalten. Das ist die politische Diktion in Sachsen«, kritisiert die sächsische LINKEN-Abgeordnete Juliane Nagel.
Angesichts der rechten Ausschreitungen der vergangenen Tage machen sich Politiker und Aktivisten über die Ursachen der Gewalt Gedanken. Rico Gebhardt, Fraktionsvorsitzender der sächsischen LINKEN im Landtag, sieht einen Teil der Verantwortung bei der regierenden CDU. »Die sächsische CDU hat toleriert, akzeptiert, abmoderiert. Sie hat nicht wahrnehmen wollen, dass wir tatsächlich ein Problem mit Rechtsaußen haben. Sie hat die Zivilgesellschaft unterdrückt«, sagt er dem »nd«.
Thomas Hoffmann vom Sächsischen Flüchtlingsrat äußert ebenfalls Kritik. Nach 2015 seien die Angriffe auf Geflüchtete und Unterkünfte rückläufig gewesen, doch die Behörden hätten es versäumt, präventiv tätig zu werden. Die Staatsregierung habe sich nie mit der Zivilgesellschaft hingesetzt, um eine Strategie zur Verhinderung weiterer rassistischer Mobilisierungen zu entwickeln. Die Landesregierung müsse nun »das Problem mit Rechts beim Namen nennen«, antirassistische und antifaschistische Initiativen dürften nicht mehr verfolgt werden. Langfristig brauche es eine starke Förderung der Jugend-und Erwachsenenbildung, vor allem auf dem Land und über die nächsten Landtagswahlen hinaus.
Viele Engagierte sind sich einig, dass die Gefahr in Chemnitz nicht gebannt ist. »Die Menschen, die sich nun öffentlich positionieren und Gesicht zeigen, sind bedroht. Besonders durch die Anwesenheit von ›Pro Chemnitz‹ im Stadtrat und dessen Verbindungen in die extrem rechte Szene«, sagt Robin Rottloff vom Bündnis Chemnitz Nazifrei. Thomas Hoffmann befürchtet, dass sich die Bedrohungen auch für Geflüchtete und Migranten fortsetzen werden. »Eine Hemmschwelle für Übergriffe gibt es nicht mehr. Die Rechten suchen den Deutungskampf um die Stadt. Und sind bereit, diesen mit Gewalt zu führen.«
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