Atemverschlagend präzise Körpermotorik

Mit »Celis | Eyal« beginnt beim Staatsballett eine neue Ära

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 4 Min.

Da ist sie nun, die neue Ära beim Staatsballett Berlin. Ein Jahr lang ist der Schwede Johannes Öhman Allein-Intendant, ehe sich mit ihm ab der nächsten Saison Sasha Waltz die Gewalten teilt. Für den Einstieg hat Öhman zwei Mitbringsel aus seinen Direktoraten in Göteborg und Stockholm zu einem Abend vereint. Wie der Strich in »Celis | Eyal« trennt, unterscheiden sich auch die künstlerischen Handschriften der beiden Choreografen. Schon 2009 entstand für die Compagnie im schwedischen Göteborg »Your Passion Is Pure Joy To Me«. Stijn Celis, Ballettchef in Saarbrücken, bezieht sich im Titel auf die Zeile eines Bach-Chorals, setzt als Musik für seinen 40-minütigen Beitrag indes Songs des australischen Songwriters Nick Cave ein. Um Liebe zwischen Menschen und zu Gott geht es in melancholischen Liedchen, die von der Ausdruckskraft der rauen Stimme leben. Wo Celis weitere, andere Emotionsebenen braucht, schiebt er zeitgenössische Musik ein: »Anthèmes 2« für Violine und Live-Elektronik von Pierre Boulez und einen Exzerpt aus Krzysztof Pendereckis »Fluorescences« für Orchester, sowie ein Klaviersolo des Kubaners Gonzalo Rubalcaba.

Auf der komplett entkernten Bühne der Komischen Oper lösen sich die sieben Tänzer in einem hingetupften Beziehungsreigen mit steten Auftritten, Abgängen und nur sehr wenigen haltbaren Momenten ab. Wege kreuzen sich, Sehnsüchte keimen auf, kurze Begegnungen hinterlassen kaum Spuren. Steht ein Partner an der Brandmauer, die Partnerin an der Rampe, klafft zwischen ihnen eine schier unüberbrückbare Distanz. Passanten durchs Leben sind sie alle, vereint in Körperkippungen und Balancen, mit denen Celis strikt zu nahen Textbezug vermeiden will. Einzig spitzbogenhaft gehaltene Arme lassen sich als gotische Zutaten deuten. Weite Ausfälle, Körperwölbungen und eine auf Dehnung gerichtete Sprache beschreiben einen Tanz ohne konkrete Achse, der einige Male mehr Partnernähe zulässt, sonst eher diffus im Raum schwebt und sich nicht immer gegen die dominante Musik behaupten kann. Erstmals stellen sich in dieser Elegie des Gebrochenseins fünf neu engagierte zeitgenössische Tänzer vor, bärtig die Männer, stilistisch exquisit allesamt.

Hat der Belgier überwiegend auf Neuzugänge gesetzt, so mischt seine israelische Kollegin Sharon Eyal zeitgenössische Tänzer und Experimentierfreudige aus der Klassiker-Fraktion, in die sich das auf 93 Mitglieder erweiterte Staatsballett ab jetzt aufteilt - und führt ihre 13 Erwählten zu einer imposanten Gemeinschaftsleistung. »Half Life« als Titel der Komposition ist dabei allenthalben ein Notnagel, denn im Grunde verhandelt sie nur einen Aspekt dieses Lebens: Dynamikzwang, der sich aus einer hervorbrechenden inneren Energie speist und zusätzlich von Ori Lichtiks manipulierenden Techno-Raves befeuert wird. Ein separates Paar in der Mitte beginnt, er im repetitiven Seitschritt, sie in einer Reibebewegung vor der Brust, beide im Tretrhythmus, den die Gruppe aufnehmen wird. Unendlich langsam kommt sie von der Seite hinzu, unisex in muskelbetont knappste Kostüme gehüllt. Alon Cohens neblige Lichtstimmung begleitet ein Tranceritual, bei dem sich der Pulk hoch-tief in sich gliedert, eng-weit in den Raum hinein kontrahiert. Fast minimale Bewegungsänderungen schweißen die Gruppe in sich steigernder Hypnose zusammen, ob hinter dem Kopf verschränkte Arme, zuckende Schultern, pochende Herzen, gemeinsames Blicken oder Zeigen, kleinste Auslenkungen des Oberschenkels, Wedeln wie Seeanemonen. Es scheint Verwerfungen innerhalb des Pulks zu geben, Gerangel um die Führerschaft; Gefangensein in die erbarmungslos treibende Motorik verhindert allerdings jedes Absetzbestreben. Auch dem Zuschauer fährt der präzis wie ein Uhrwerk pulsende Gruppenmechanismus in die Glieder, doch überraschend löst sich die in Form gebändigte Energie auf: in Bewegungsfolgen des klassischen Tanzes, ebenso motorisch bis zur Erschöpfung absolviert.

Sharon Eyals »Half Life« ist eine atemverschlagend konsequent durchgestaltete Choreografie, eine Art Tanzhammer - und ein Brückenschlag zwischen den exzellenten Ensembleteilen, der beweist: Es ist möglich, Klassisches und Zeitgenössisches in ein und derselben Compagnie auf höchstem Niveau zu pflegen. Im November folgt als Kontrast Alexei Ratmanskys Neuversion von »La Bayadère«. Schon jetzt: die ersten 100 Punkte für Johannes Öhman!

Weiter: 14., 16., 22., 29. September, Komische Oper

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