Flüstern, Aufstöhnen, Quietschen und Knistern

Pop, Politik und Porno - »Oh My« des Performancekollektivs »Henrike Iglesias« in den Sophiensaelen

  • Samuela Nickel
  • Lesedauer: 6 Min.

Dicht aneinander gedrängt sitzen die Zuschauer*innen. Hier sollen gleich auf der Bühne feministische Pornofilmchen gedreht werden. Ein leicht betretenes Gefühl breitet sich aus, ähnlich wie in einem der fast schon ausgestorbenen Schmuddel-Sexkinos - allein in seiner Geilheit und doch eng beieinander. Zögerlich setzen die Zuschauer*innen die Funkkopfhörer auf, die zur Performance »Oh My« von »Henrike Iglesias« gehören.

Eine sanfte Stimme beginnt davon zu erzählen, wie sie in den Publikumsreihen der Sophiensaele sitzt und wie sie langsam immer erregter wird. Auf der Bühne: eine weiße aufblasbare Box. Darin befindet sich das Pornofilmstudio, in das die Zuschauer*innen zunächst nur durch eine Kamera Einblick finden. Die Filmclips aus dem Inneren der Box werden an die Außenwand projiziert. Während Anna Fries, Laura Naumann, Marielle Schavan und Sophia Schroth vom Performancekollektiv »Henrike Iglesias« auf die Bühne tigern, erzählt die Kopfhörerstimme, wie sehr ihr die halbnackten Körper der Künstlerinnen gefallen - die Pornoperformance beginnt mit der Narration einer Pornoperformance.

Das knapp anderthalbstündige Stück des Berliner Gruppe »Henrike Iglesias« lebt von diesem Um-Die-Ecke-Denken, von den spielerischen Andeutungen und verdeckten Anspielungen. Sofort werden die Zuhörer*innen aus der verschüchterten Anfangsstimmung geholt: Die Kopfhörer schaffen einen persönlichen intimen Raum für jeden einzelnen, in dem Lust oder Unlust sich ausbreiten können. Der Porno findet vor allem im Kopf statt. Gleichzeitig wird das Publikum über die Kopfhörer zusammengeführt. Es entsteht ein Kollektiv des Zuschauerseins - vereint im Voyeurismus: Die Erzählerin spricht von ihrer Erregung und schafft so eine Verbindung zu den Geschehnissen auf der Bühne. Durch die Kopfhörer sind die auditiven Eindrücke besonders intensiv: Jedes Flüstern, Aufstöhnen, Quietschen und Knistern, jedes Aufklatschen und jeder Klapser erreichen die Zuhörer*innen unmittelbar.

Es ist nicht das erste Mal, dass sich das vierköpfige Autor*innen- und Performer*innenkollektiv »Henrike Iglesias« mit Pornografie beschäftigt. Bei den »X Shared Spaces« an den Münchener Kammerspielen im Juli streamten sie live aus einem Camgirl-Studio, um der Wandlung der Pornoindustrie durch neue Technologien einerseits nachzuspüren. Andererseits um das Erleben der eigenen Sexualität vor einer Kamera sichtbar zu machen. Für das Stück »Erotische Außenreinigung ihres Pkw ohne Trocknung oder: Car Wash« kletterten die Zuschauer*innen in ein Auto, während die Performer*innen den PKW von außen schrubbten - lasziv natürlich. Gegründet hat sich das Kollektiv »Henrike Iglesias« 2012 in Hildesheim und schlagen seitdem die Brücke vom Pop zum Politischen. Massenmediale und -kulturelle Narrative werden zur Projektionsfläche gesellschaftlicher Missstände.

Die feministische Gesellschaftskritik der vier Performer*innen bedient sich neben der massentauglichen Codierungen aber vor allem aus dem Humor-Bereich. Im Publikum herrscht am Premierenabend schon bald Feierstimmung. Mit Fingertentakel, Tiny Hands und POV-Sequenzen nehmen die vier Schauspieler*innen die Erotikfilmlandschaft auf den Arm. Es ist fast schon Slapstick, wenn Anna Fries versucht, ihre pinke Latexhose auszuziehen oder das Stöhnen der vier ins Groteske verzerrt wird.

Der erste der dreizehn live aufgenommen Pornoclips beginnt mit einem der typischen Dialoge, bei dem Pornodarsteller*innen sich Belangloses mitteilen: »Warum liegen hier eigentlich Strohhalme?« Eine Frage, die augenzwinkernd an den dadaistischen Stroh-Masken-Porno »Achtzehneinhalb 18« erinnern soll, der durch seine lieblose Banalität inzwischen Kultstatus errungen hat und als Paradebeispiel für absurd-schlechte Dialoge gilt. Ein anderer Filmclip trägt den Titel »Two Girls One Cup« und referiert auf den gleichnamigen Fäkalfetischfilm - nur das sich in »Oh My« zwei einen Menstruationscup teilen. Das Stück ist ein Kaleidoskop aus Querverweisen, Parodieren, Samplern und sichtbar gemachten Wortspielen. Vieles ist im übertragenen Sinne gemeint: Ein Vibrator mit Stimulation für die Klitoriseichel wird an rotgeschminkte Lippen gehalten, das Gesicht so nah an der Kamera, das nur der Mund zu sehen ist. In dieser Art von Detailaufnahmen wird eine Comedy-Erotik erzeugt, die das Medium Pornofilm sowohl karikiert, als es auch in einen neuen Kontext setzt.

Die Performance bezieht sich darin auf die sogenannte Kontrasexualität nach Paul B. Preciado, wonach jedes Körperteil ein Dildo sein kann - und alles penetrierbar ist, sei es eine Kniekehle oder das Nasenloch. Was soll daran erotisch sein? Anna Fries, Laura Naumann, Marielle Schavan und Sophia Schroth hinterfragen damit, was überhaupt als Sex und also auch als Porno gilt: Ist es die genitale Penetration oder schon die Hand eines anderen in den Haaren, während man an der Supermarktkasse ansteht? Und was ist mit der Lust an Schmerz?

»Die Antwort auf schlechten Porno ist nicht kein Porno, sondern besserer Porno«. Diese Aufforderung von der Pornodarstellerin und Aktivistin Annie Sprinkle diente bei »Oh My« wohl als Inspiration. Die Aktivistin Sprinkle prägte in den 1980er Jahren maßgeblich die künstlerische Strömung des »Post Porn«. Diese neuen Lustfilme haben einen feministischen, queeren und kapitalismuskritischen Ansatz. Die Video- und Performancekunst des »Post Porn« stellt weibliche, queere oder transgender Sexualität in den Fokus und rückt ab von dem sogenannten male gaze, also der Betrachtung der Welt und auch von Frauen* aus einer männlichen Perspektive. Die meist weiße, meist männliche Sexualität als Subjekt des Begehrens, so wie es in sogenannten Mainstream-Pornofilmen üblich ist, wird abgelöst und schafft Raum für weitere Formen des Betrachtens und Begehrens. »Post Porn« ist sexpositiv - Erotik, Nacktheit, Sex, Masturbation und Pornografie sind erwünscht, selbstverständlich stets einvernehmlich. Als weitere Referenzen nennen die Künstler*innen die Berliner Sexläden »Sexclusivitäten« und »Other Nature«, die BDSM-Lokalität »Studio Lux« sowie die feministischen Pornofilme von Erika Lust (»XConfessions«). Die künstlerischen Aktionen des »Post Porn« haben einen politischen und emanzipatorischen Ansatz: Körperformen und Lust jenseits der gesellschaftlichen Norm werden ausgeleuchtet und aufgenommen. Sexuell anregend zu sein ist dabei manchmal sogar nicht die Priorität solcher Performances, aber ein willkommener Nebeneffekt.

So sind auch die »Sexy Clips« von in »Oh My« eher auf eine subtile Art und Weise erotisch. Es wird keine zusammenhängende Geschichte, sondern kurze Momente und kleine Erlebnisse gezeigt, die die Performerinnen mit sich selbst und mit anderen hatten. Die Schauspieler*innen teilen auf der Bühne ihre Lust, erzählen aber auch von Problemen, denen sie als sexuell aktive Frauen begegneten. Sie schildern Mösenspanking und Menstruationssex und argumentieren, dass eine Vulva nicht darüber entscheidet, wer die Person ist, die fickt und wer derjenige ist, der gefickt wird. In »Oh My« gibt es zwar auch Nacktheit. Aber es ist vor allem dieses Bei-sich-Sein und Für-sich-selbst-geil-sein, das auf angenehm unaufdringliche Art erregend wirkt. Es geht darum, die eigene Lust selbstbestimmt zu erleben, sich dabei sogar zu filmen - also einen Pornofilm von sich und für sich selbst zu drehen.

Weitere Aufführungen am 15. und 16. September, Sophiensaele

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