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Ein Füllhorn für die Industrie

Wohin die Forschungsmittel der Europäischen Union fließen

  • Tino Brömme
  • Lesedauer: 5 Min.

Während meiner Studienzeit in Berlin arbeitete ich zu Heiligabend immer als Weihnachtsmann und gelangte dabei in viele deutsche Wohnzimmer. In besonders guter Erinnerung ist mir eine Großfamilie mit einem Dutzend heiterer Erwachsener rund um einen großen Tisch und nur einem Kind. Jene begruben dieses buchstäblich unter dem Haufen von Geschenken, und seine Wangen leuchteten rot und heiß. So verhält sich der Forschungshaushalt der Europäischen Union, durch den die Industrie, dieses nimmersatte Kind Europas, groß beschenkt wird.

Als Teil des nächsten EU-Haushalts von 2021 bis 2027 stellte die Europäische Kommission ihren Entwurf des 9. Forschungsrahmenprogramms (FP 9) namens »Horizon Europe« bereits im Juni in Brüssel vor. Trotz des Austritts Großbritanniens aus der EU wächst das Forschungsbudget. Knapp 100 Milliarden Euro werden veranschlagt, etwa 30 Milliarden mehr als beim Vorgänger »Horizon 2020«. Dazu rechnet die Forschungsgemeinschaft mit weiteren 50 Milliarden Euro aus benachbarten Haushaltskassen.

Diese zusätzlichen Milliarden für Forschung kommen so zusammen: 15 Milliarden Euro aus »InvestEU«, d.h. für öffentliche Kreditgarantien, die auf 650 Milliarden Euro weitere Investitionen spekulieren; sechs Milliarden für ITER, den internationalen Kernfusionsreaktor, der gerade im südfranzösischen Caradache gebaut wird; 2,4 Milliarden für das Atomforschungsprogramm »Euratom« und 9,2 Milliarden Euro für die Forschung zu fortgeschrittener Datenverarbeitung, Cybersicherheit und künstlicher Intelligenz (»Digitales Europa«). Erstmals wurde ein Europäischer Verteidigungsfonds eingerichtet und mit 13 Milliarden Euro ausgestattet.

Wie martialisch das neue Forschungsbudget ist und wie weit es von den Interessen und der Mitsprache der Gesellschaft entfernt ist, merkte man EU-Forschungskommissar Carlos Moedas bei seiner Präsentation des Programms in Toulouse nicht an. Er bemühte Hannah Arendt und Jean-Jacques Rousseau, um seinem Haushaltsentwurf einen bürgernahen Anstrich zu geben. »Horizon Europe« müsse ein »neuer Gesellschaftsvertrag zwischen Bürgern, Regierungen und Wissenschaft« werden, sagte er, »bei dem Bürger und Wissenschaftler im Zentrum öffentlicher Politik stehen« und »daran mitwirken«.

Den Widerspruch scheint der milde Portugiese mit gepflegtem Dreitagebart nicht bemerkt zu haben oder er wollte ihn nicht bemerken. Tatsächlich ist bereits die Ausrichtung des Forschungsförderungsprogramms, das heißt dessen Aufbau in drei Programmpfeiler mit verschiedenen »Missionen«, die alle irgendwo »Industrie«, »Innovation« und »Wettbewerb« enthalten, ein Schlag ins Gesicht der europäischen Bürger. So ist in dem zweiten Programmpfeiler ausdrücklich die Rede davon, dass »gesellschaftliche Herausforderungen« mit »industrieller Wettbewerbsfähigkeit« zusammengefasst werden sollen. »Das wäre ein ernster Fehler«, meint Cecile Vernant, Leiterin des Brüsseler Büros der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung (DSW), einer international tätigen Entwicklungsorganisation. Bei einer solchen Zusammenlegung gebe es keine Transparenz über die Verteilung der Mittel, sagt sie, und nirgends würde erklärt, wie Bürger und öffentliche Einrichtungen von dieser Programmsäule profitieren können. »Wir wissen, dass Sektoren, die auf öffentlicher Finanzierung basieren wie die Gesundheitsforschung, gegen die Interessen der Privatwirtschaft ausgespielt werden, wobei es nur einen Gewinner gibt, und das sind nicht die Milliarde Menschen mit armutsbedingten Krankheiten.«

Zwar betreibt der europäische Universitätssektor selbst intensiv Lobbyarbeit in Brüssel, doch die großen Industrieverbände graben ihm das Wasser ab. 14 Universitätsverbände - so viele belagern Brüssel - forderten jüngst in einem gemeinsamen Aufruf von der EU weit mehr Mittel, nämlich eine Verdoppelung des Forschungsbudgets auf 160 Milliarden Euro. Sie kritisierten dabei auch die Dominanz der Industrie: »Die kurzfristigen Interessen der Industrie sollten keinen Vorrang vor dem langfristigen gesellschaftlichen Nutzen von ›Horizon Europe‹ haben.« Das Programm müsse auch die Wirkungen einschließen, die es auf unsere Gesellschaften habe.

Als vor einem Jahr die Zwischenbilanz zu »Horizon 2020« erschien, monierte die spanische EU-Parlamentarierin Soledad Cabezón Ruiz von den Sozialisten, dass Großunternehmen überhaupt EU-Forschungsmittel bekommen. Die Konzerne, sagte sie, nähmen die EU-Gelder einfach mit und sparten sich die eigenen zusätzlichen Investitionen. Industriekonzerne erhalten 13 Prozent, also ein Sechstel, aus dem EU-Forschungsbudget, alle Industriebetriebe Europas zusammengenommen ein Viertel. »Wir reden hier von zweistelligen Milliardenbeträgen, also von sehr viel Geld«, erklärt Martin Pigeon von der Nichtregierungsorganisation C.E.O., die die Lobbyaktivitäten in Brüssel überwacht und dokumentiert. »Und dieses Geld fehlt dann anderswo,« so Pigeon. »Das ist, worauf die Frau Cabezón hinweist: Sie stecken das Geld einfach ein, ohne selbst etwas draufzulegen. Dafür sind die Forschungsgelder, für die die europäischen Steuerzahler ungefragt aufkommen, nicht bestimmt. Sie sollen neues Wissen generieren, um wichtige gesellschaftliche Fragen zu lösen - etwa zum Klimawandel.«

Das sogenannte Europäische Verteidigungsbudget, das »Horizon Europe« um 13 Milliarden Euro aufstockt, ist besonders fragwürdig. In einer Fußnote des Leitlinienpapiers der deutschen Bundesregierung zum FP 9 heißt es, es solle »zur Stärkung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit dem Schwerpunkt auf verteidigungsorientierte Forschung und als Ergänzung zu nationalen bi-/multinationalen, EU, EDA und NATO-Forschungsaktivitäten einen europäischen Mehrwert darstellen«.

Ende Juni lancierten Friedensinitiativen und Wissenschaftlerinnen eine Kampagne, um die Militarisierung der EU-Forschungspolitik zu stoppen. In ihrer Petition warnen über 700 Wissenschaftler und Akademiker aus 19 EU-Staaten: Damit »priorisiert die EU hochkontroverse Forschung wie die Entwicklung robotergesteuerter Waffensysteme. Dies wird nicht nur das globale Wettrennen in der Entwicklung solcher Technologien verschärfen, sondern könnte auch zu einer Zunahme an Waffenexporten in repressive Regime führen und Konflikte schüren. Bereits jetzt fördern in der EU hergestellte Waffen Verletzungen des Humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte in zahlreichen Konfliktzonen.«

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