Belgisch Schweden
Die Krimi-Serie »24 Hours« auf ZDFneo
Verglichen mit jenem Tempo, mit dem die Plattentektonik das Festland des Planeten gegeneinander schiebt, erreicht eine Nacktschnecke fast Überschallgeschwindigkeit. Vor Kurzem jedoch muss sich die Kontinentaldrift so stark beschleunigt haben, dass Skandinavien plötzlich in Belgien zu liegen scheint - zumindest filmästhetisch. War die Wolkendecke menschlicher Abgründe zuvor über Norwegen, Dänemark, ja selbst über Lindgrens Bullerbü-Schweden am dicksten, so ist die Schlechtwetterfront des Fernsehens vor ein paar Jahren südwärts gezogen und taucht seither die flämisch-wallonische Provinz in tristes Thriller-Dunkel.
Helles Licht, gar Sonnenschein gibt es daher auch in einer Kleinstadt bei Brüssel nie. Zwei Desperados besetzen dort eine Bank und drohen damit, diese mitsamt aller Geiseln zu sprengen. 24 Stunden bleibt der Polizei, das Lösegeld von einer Million Euro zu organisieren; 24 Stunden sind zugleich das Zeitfenster der polizeilichen Befreiungsaktion. »24 Hours« heißt demnach auch dieser nervenzerfetzende Mehrteiler, den ZDFneo ab Freitag zeigt. Wobei die belgisch-deutsche Koproduktion bereits im Untertitel »Two Sides of Crime« andeutet, dass Gut und Böse hier weit weniger klar zu trennen sind, als es das Ausgangsverbrechen nahelegt.
Nach dem Drehbuch von Jonas Geirnaert und Julie Mahieu inszenieren die Regisseure schließlich kein tradiertes Bankraubszenario mit angemessen ungewissem, tendenziell aber berechenbarem Happy End; Gilles Coulier und Dries Vos beleuchten die Situation stattdessen so aus den Blickwinkeln sämtlicher Charaktere, dass Täter, Opfer, Polizei, Presse, Schaulustige, sogar Angehörige der Geiseln Teil einer Geschichte werden, die bis zum Ende offenlässt, wer auf welcher Seite steht. Im wachsenden Chaos bleibt da im Grunde nur die beruflich stabile, privat leicht zerrüttete Verhandlungsführerin Mercedes Vos grundlegend vertrauenswürdig. Und auch das hat längst Tradition im skandinavischen Dunkelkrimi belgischer Bauart.
Der legt dank vielfach herausragender Formate wie »The Break« (Sky), »Code 37« (Neo), »Modus« (ZDF) oder »The Spiral« (Arte) schließlich nicht nur eine besondere Schicht bitterer Patina übers kriminalpsychologische Handlungsmobiliar zwischen Missbrauch, Serienkillern, Kunstraub und Ritualmorden. Viele der Ermittlerinnen, die um Deutungshoheit kämpfen, sind von einer seltsam eigensinnigen Sprödigkeit. Melinda Kinnaman, Lien van de Kelder und regelmäßig die grandiose Veerle Baetens (»Tabula Rasa«) zertrümmern das Bild der weiblichen Stammrolle als attraktive Sidekicks männlich-dominanter Kommissare sogar noch mehr als ihre Kolleginnen in den skandinavischen Ländern.
Wer Lynn Van Royen vor anderthalb Jahren auf Arte dabei beobachtet hat, wie sie in der Serie »Zimmer 108« von den Toten auferstanden ist, ohne ein Zombie zu sein, sieht Mystery-Thriller mit anderen Augen. »24 Hours« ist allerdings kein Emanzipationsstoff, geschweige denn Fiktion für Frauen allein. Gemeinsam mit ihrer Spezialeinheit um Einsatzleiter Ivo De Rouck (Johan Van Assche) und den fragilen Unterhändler Ibrahim El Ghazoui (Lukas De Wolf) kämpft Mercedes Vos eher mit dem kommunikativen Durcheinander einer zusehends gespaltenen Gesellschaft, als dass sie sich mit Verbrechern auseinandersetzen muss.
ZDFneo, ab 5. Oktober, 21.45 Uhr
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