Immunzellen ohne Bremse

Medizinpreis geht an Krebsforscher aus den USA und Japan.

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 5 Min.

Jedes Jahr im September wiederholt sich das gleiche Spiel: In den USA und anderswo küren Experten ihre Favoriten für die anstehende Bekanntgabe der Nobelpreisträger. Bisher jedoch trafen sie mit ihren veröffentlichen Prognosen nur selten ins Schwarze. In diesem Jahr gab es einen Treffer. »Inside Science«, der unabhängige Nachrichtenservice des American Institute of Physics, hatte einen Immunologen in seine Favoritenliste für den Medizin-Nobelpreis aufgenommen, der nun tatsächlich die hohe Auszeichnung erhalten hat: James P. Allison vom University of Texas MD Anderson Center of Medicine.

Wie das Karolinska Institut in Stockholm am Montag mitteilte, wird er für seine Forschungen zur Krebstherapie mittels Hemmung von negativen Immunreaktionen geehrt. Allerdings bekommt Allison den Preis nicht allein. Er muss ihn sich mit einem zweiten Onkologen teilen, der diesmal kein US-Amerikaner ist, sondern aus Japan stammt und heute an der Universität Kyoto lehrt: Tasuku Honjo. Auch dessen Arbeiten zur Krebstherapie stufte das Nobel-Komitee für Medizin als bahnbrechend ein, so dass das Karolinska Institut nun der Öffentlichkeit verkünden konnte: »Durch die Stimulierung der Fähigkeit unseres Immunsystems, Krebszellen anzugreifen, haben die diesjährigen Nobelpreisträger ein ganz neues Verfahren der Krebsbehandlung begründet.«

Nobelpreis für Medizin

James P. Allison , geboren am 7. August 1948 in Alice (US-Bundesstaat Texas), forscht am MD Anderson Cancer Center der University of Texas in Houston und am Parker Institute for Cancer Immunotherapy in San Francisco. Tasuku Honjo, geboren am 27. Januar 1942 in Kyoto (Japan), arbeitet an der Kyoto University.

Normalerweise ist das menschliche Immunsystem gut gerüstet, um neben Eindringlingen wie Bakterien oder Viren auch schadhafte körpereigene Zellen zu erkennen und zu beseitigen. Bei Tumorzellen funktioniert das häufig nicht. Denn die haben effiziente Strategien entwickelt, um dem Immunsystem zu entgehen. Manche Tumorzellen tarnen sich, andere senden Botenstoffe aus, die auf die Immunabwehr wie eine Bremse wirken. Ein erfolgversprechender Weg in der Krebstherapie bestünde folglich darin, solche ansonsten nützlichen molekularen Bremsklötze, auch Checkpoints genannt, zu lösen. Danach könnten die so entfesselten Immunzellen den Kampf gegen den Tumor aufnehmen. Lange sei der Fortschritt bei der Suche nach wirksamen Immuntherapien eher schleppend verlaufen, heißt es in der Nobel-Laudatio. Erst die Immun-Checkpoint-Therapie der beiden Laureaten habe die Krebsbehandlung revolutioniert.

Allison selbst erklärte dazu: »Früher gab es drei Säulen in der Krebstherapie: Operation, Strahlentherapie und Chemotherapie. Heute haben wir eine vierte Säule - die Immuntherapie.« Im Gegensatz zu Chemo- oder Strahlentherapie wirkt die Immunbehandlung nicht direkt auf den Tumor ein. Sie soll vielmehr die Selbstheilungskräfte eines Menschen bzw. dessen körpereigene Immunabwehr anregen, den Krebs zu bekämpfen. Bereits in den 1860er Jahren berichtete der Bonner Chirurg Wilhelm Busch von einer Frau, deren Tumor nach einer Infektion geschrumpft war. In den 1890er Jahren injizierte der New Yorker Chirurg William Coley abgetötete Bakterien in Tumore. Auch diese Behandlung führte bei einigen Patienten zu Erfolgen. Wie man heute weiß, können spezielle Bakteriengifte in einem Tumor die Immunabwehr so stimulieren, dass diese die Krebszellen aufspürt und attackiert.

Die Checkpoint-Therapie wiederum verfolgt das Ziel, Stoffe, die das Immunsystem bremsen, biochemisch zu blockieren. Ein solcher Stoff ist das Protein CTLA-4. Es hält wichtige Abwehrzellen, sogenannte T-Zellen, davon ab, Krebszellen anzugreifen. Allison und seinem Team gelang es in den frühen 1990er Jahren erstmals, CTLA-4 mit einem Antikörper zu hemmen. 1994 führten die Forscher einen Testversuch mit Mäusen durch, die Hautkrebs hatten. Tatsächlich brachten die auf den Namen Ipilimumab getauften Antikörper das Immunsystem der Nager dazu, die Tumore zu attackieren und zu zerstören. Wenig später wurde die Antikörpertherapie auch bei krebskranken Menschen erfolgreich angewandt. »Patienten haben mit Hilfe der Therapie etwa bei metastasierendem Schwarzen Hautkrebs eine Immunität gegen den eigenen Tumor entwickelt«, erklärt Hans Reimer Rodewald vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg. »Sind die Patienten früher innerhalb weniger Monate gestorben, überleben einige von ihnen heute fünf Jahre und länger.« 2011 wurde Ipilimumab in den USA zur Behandlung von metastasiertem Hautkrebs zugelassen.

Eine zweite molekulare Bremse für T-Zellen, das Protein PD-1, nahm Tasuku Honjo ins Visier. Auch ihm gelang es, das Protein mit Hilfe von Antikörpern zu blockieren. Seit 2012 ist deren Wirksamkeit gegen verschiedene Krebsarten belegt. Heute werden auf PD-1 basierende Therapien erfolgreich bei Lungenkrebs, Nierenkrebs, Lymphomen und Melanomen angewandt. »Neue klinische Studien weisen darauf hin, dass Kombinationstherapien, die sowohl auf CTLA-4 als auch PD-1 abzielen, noch wirksamer sein können«, erklärte das Nobel-Komitee. Bei Melanom-Patienten lässt sich der Anteil derer, die von einer solchen Behandlung profitieren, schätzungsweise auf 40 bis 44 Prozent steigern. Allerdings geht die Therapie häufig mit starken Nebenwirkungen einher wie Hautausschlägen sowie Entzündungen von Leber oder Lunge.

Zudem sind Immun-Checkpoint-Therapien noch immer sehr teuer. So kostet die Behandlung mit einem PD-1-Hemmer derzeit rund 12 000 Euro pro Monat, mit dem CTLA-4-Hemmer Ipilimumab sogar über 20 000 Euro. Für eine Kombination beider wären mithin 30 000 Euro und mehr zu zahlen. Wie in anderen Bereichen der Medizin ist wohl auch hier das unverhältnismäßige Gewinnstreben der Pharmakonzerne ein maßgeblicher Grund, warum viele Patienten nicht in den Genuss solcher Therapien kommen.

Tasuku Honjo zeigte sich überrascht von der Ehrung und erklärte, dass er trotz des Nobelpreises weiterhin an der Entwicklung von Immuntherapien arbeiten werde, um noch mehr Krebskranken helfen zu können. Er freue sich jedes Mal riesig, wenn Menschen ihm sagten, sie seien wegen seiner Forschungsarbeit genesen. James Allison ist mit seiner Entdeckung in besonderer Weise verbunden. Denn er war erst zehn Jahre alt, als seine Mutter an Krebs starb. Diese Erfahrung habe auf ihn einen starken Eindruck hinterlassen, so der heute 70-Jährige, der später selbst an Krebs erkrankte. Die von ihm mitentwickelte Immuntherapie nahm er seinerzeit nicht in Anspruch. »Wenn man es früh diagnostiziert, ist eine Operation immer noch das Beste«, sagte Allison in einem Interview. Alle bösartigen Geschwulste seien bei ihm entfernt worden. »Sollten sie zurückkommen, würde ich aber sicherlich auf die Immuntherapie setzen.«

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