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»Weil ich notwendigerweise Mensch bin«

Alfred J. Noll las erneut Montesquieus »L'esprit des loix« - mit Gewinn für alle engagierten Zeitgenossen

  • Hermann Klenner
  • Lesedauer: 6 Min.

Ein Feigling war er nicht. Aber er gestand sich ein, dass er wohl ein Bekenner der Wahrheit sein möchte, nicht aber ihr Märtyrer. Selbstbewusst war er dennoch: Außer den Lehrsätzen des Euklid vertrete er keine fremden Meinungen! Doch akzeptiere er sogar den Schein (!), sein wichtigstes Werk, den »Geist der Gesetze«, nur zum Beweis dafür geschrieben zu haben, dass der Geist des Gesetzgebers der Geist der Mäßigung sein müsse, verallgemeinert: »ubiquitäre Mäßigung«.

Alfred J. Noll: Absolute Mäßigung. Montesquieu und sein L'esprit des loix.
Verlag PapyRossa, 1020 S., br., 20 €.

Nun hat Alfred J. NolI ein bewundernswertes Werk im Lexikonformat, ausdrücklich nicht als Einführung, sondern als Hinführung zu Montesquieus »L'esprit des loix« mit seinen in 620 Kapiteln unterteilten 31 Büchern unter dem doch wohl zwielichtigen Titel »Absolute Mäßigung« publiziert. Für Montesquieu sei Mäßigung sowohl ein menschliches und politisches Ideal, als auch ein weltanschauliches Postulat für die persönliche Lebensgestaltung wie auch für die Führung der Staatsgeschäfte; er sei ein »Meister der Relativierung«, ja der bedeutendste Theoretiker des politischen Kompromisses gewesen, der dennoch nie die ihn umgebenden Realitäten leugnete, im Gegenteil: er habe die mittelalterliche Rechtstheologie durch eine damals zeitgemäße Rechtssoziologie ersetzt. Schließlich hätten ihn seine Reisen in viele Länder wie seine Literaturstudien gelehrt, auch jene Gesetze der verschiedenen Staaten auf ihre historische und geografische Bedingtheit abzuklopfen, die sich als universal oder absolut verpflichtend, als göttliche Gebote gar, ausgaben.

Gegen Ende der Aufklärung hatte Hegel den 1748 in Genf veröffentlichten, in den ersten anderthalb Jahren in 22 Auflagen publizierten, in alle Sprachen Europas (ins Deutsche bereits 1753) übersetzten, staatlich wie kirchlich verbotenen »Geist der Gesetze« für ein unsterbliches Werk erklärt; der junge Marx exzerpierte es und der reife Marx zitierte es häufig; selbst Stalin erwähnte es gelegentlich; in der Militärakademie der chinesischen Revolutionäre wurde es von Tschu-En-Lai gelesen; Jürgen Kuczynski hielt Montesquieu für den bedeutendsten Gesamtgesellschaftswissenschaftler vor Hegel; Werner Krauss bezeichnete ihn als einen epochemachenden Autor; für den von NolI als »geistvollen Stänkerer« charakterisierten Voltaire war allerdings der »Geist der Gesetze« ein Labyrinth ohne Faden, von dem Viktor Klemperer überdies meinte, dass seine philosophische Grundlegung von Anfang bis Ende misslungen sei. NolI meint hingegen, dass dem »Geist der Gesetze« ein von bisher noch niemandem gefundenes »verstecktes System« innewohne.

Widersprüchlichkeiten dieser und anderer Art nimmt NolI, der sich zuletzt mit des Kontra-Aufklärers Heidegger »Schwarzen Heften«, ihrem Antisemitismus vor allem, auseinandergesetzt hatte, als zusätzlichen Anreiz für seine eigene Sicht der Dinge. Dabei beeindruckt er den Leser mit seiner umfassenden Kenntnis des Gesamtwerkes von Montesquieu, einschließlich der nur handschriftlich überlieferten Texte samt der privaten Notizen, sowie der inzwischen ganze Bibliotheken füllenden Sekundärliteratur. Deren Lektüre sich als Muster für eigenes Tun auch nur vorzustellen, führt unweigerlich zu Alpträumen. Der Rezensent, auch nicht grade ein Fauler, steht fassungslos vor dem Wissen des Autors. Der offeriert mehr als die Hälfte seiner Ergebnisse in der ungewöhnlich lexikalischen Form eines »Abecedariums«, d. h. er erörtert die mehr als einhundert Begrifflichkeiten von Adel über Diktatur, Eigentum, Gewaltenteilung, Liebe, Luxus, Sklaverei, bis hin zu Wissenschaft und Zensur, wie sie von Montesquieu und dessen Anhängern und Gegnern diskutiert wurden, in alphabetischer Reihenfolge.

Dieses Werk, um es fordernd zu formulieren, gehört in den Lesesaal jeder wissenschaftlichen Bibliothek. Und außerdem verdient es, von allen be- und genutzt zu werden, die Europas Aufklärung als ein intellektuelles Bollwerk gegen die Primitivitäten von Trump und dessen »America first« begreifen.

Die langen Montesquieu-Zitate - alle in französisch wie (zum Teil erstmals!) in deutsch - sowie die zweitausend auch sehr langen Anmerkungen machen freilich die Lektüre zu keinem Lese-, wohl aber zu einem Arbeits- und Bereicherungsvergnügen von seltenem Ausmaß. Was jedoch Pläsier macht, ist die jedem Personenkult abholde Souveränität, mit der über vergangene und gegenwärtige Größen - locker, locker - gesprochen wird: So über Karl den Großen als einen »Superstar«; so über die »Softpornos« im Werk eines gelegentlich »in Rage« geratenen, selbst vor »Geschichtsklitterungen« nicht zurückscheuenden Montesquieu; so über die »unangenehmen Nackengefühle« bei einigen Monarchen angesichts des Schicksals von Charles I.; so über gelegentliche »Flegeleien« eines zuweilen auch »schmalsinnigen« und »polternden« gewissen Karl Marx.

Die Souveränität Nolls zeigt sich auch darin, dass er der unhistorischen Verlockung entsagt, Montesquieu zu »widerlegen« oder seine Tauglichkeit für die Lösung heutiger Gesellschaftsprobleme akkurat zu überprüfen. Er weiß natürlich einzuordnen, warum der seine wichtigsten Werke anonym und im Ausland publizierende Montesquieu vor Widersprüchen wie vor zwielichtig Scheinendem schon deshalb nicht zurückscheute, weil zu seiner Zeit und in seinem Land die letzten Gründe der eigenen Meinung offenzulegen, kein Zeichen sonderlicher Lebensklugheit war. Gedachtes und Geschriebenes stimmen bei ihm (wie übrigens selbst beim Wahrheitsfanatiker Immanuel Kant!) nicht immer überein. Kein Wunder bei dem 1689 in der Nähe von Bordeaux Geborenen, der zwar keine andere als die damalige Gesellschaft, aber diese Gesellschaft anders wollte; der Reichtum für ein eigentlich wieder gut zu machendes Unrecht hielt; der als ein mit einer Hugenottin verheirateter Katholik den Papst als einen alten Götzen einschätzte; der das Geld als das eigentlich Regierende charakterisierte; der sich darüber im klaren war, dass ein Fürst, der ihn, Montesquieu, zu seinem Rat gebenden Günstling zu machen, sich damit zugrunde richten würde.

Was die literarische Darstellung seiner Absichten anlangt, so war ihm aus Erfahrung und Einsicht klar, dass mit dem Fuchsschwanz zu wedeln wirkungsvoller sein kann, als mit einer Löwenpranke zuzuschlagen. Bei nicht wenigen seiner Gedanken lohnt es sich, nach dem Hintergedanken zu fahnden, um dessentwillen jene überhaupt nur geäußert worden waren. In Alfred J. Nolls Gesamtanalyse ist Voranstehendes wie vieles andere hervorragend verarbeitet.

Um nun doch auch etwas Kritisches zu sagen: eine Mäßigung für »absolut«, also für unbeschränkt (d. h. doch für unmäßig!) zu halten, nähert sich einem Widerspruch in sich selbst, einer »contradictio in adjecto«. Zumal bei jemandem wie Montesquieu, dem Noll zubilligt, Europas Aufklärung initialisiert, sogar materialistische Gedanken gehabt zu haben; der in zumindest einem Fall zur »äußersten Linken« zu zählen sei; der andererseits im Verlauf seines Lebens auf den rechten Flügel des Fortschritts, also wohl doch nicht maßvoll, gerückt sei. In einer Zweitauflage sollte ein Begriffs- und Personenregister aufgenommen werden.

Wie auch immer: Nolls Würdigung ist eine aufmerksame Benutzer- und Leserschaft aufs Innigste zu wünschen. Schließlich gilt sie jemandem, dem wir »Sternstunden der Aufklärung« verdanken und dessen Gedankenweg letztlich zu Marx führt. In sein Merkheft hatte sich Montesquieu einen Satz notiert, der beim gegenwärtig in der Welt wie in Europa grassierenden Chauvinismus ernst genommen zu werden, reichlich verdient, nach Nolls Wertung ein »Jahrtausendsatz«: »Wüsste ich etwas, das meinem Land nützen, aber für ein anderes ruinös wäre, würde ich es meinem Fürsten nicht vorschlagen, weil ich, noch bevor ich Franzose bin, Mensch bin oder weil ich notwendigerweise Mensch, und Franzose nur aus Zufall bin.«

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