Ein Hokuspokus
Maria Cecilia Barbettas Roman »Nachtleuchten« über das Argentinien von 1974
Am Anfang dieses voluminösen Romans steht eine Schwangerschaft. Familie Gianelli erwartet Nachwuchs, was aus der Perspektive von Tochter Teresa heißt, dass sie sich bald Schwester nennen darf. Weil sie auf eine Nonnenschule geht und sich ohnehin für eine Botschafterin Gottes auf Erden hält, schiebt sie den verstörenden Gedanken, ihre Eltern müssen wohl oder übel Sex gehabt haben, zur Seite und denkt sie sich: Schwester Teresa hört sich »gar nicht so übel an«.
Die 1972 in Argentinien geborene Schriftstellerin María Cecialia Barbetta, die 1996 nach Berlin kam und auf Deutsch schreibt, legt sich im ersten Kapitel ihres zweiten Romans »Nachtleuchten« auf einen literarischen Tonfall fest, den sie auf den folgenden über 500 Seiten weitgehend durchhalten wird: Es ist eine ironische Halbdistanz, wie sie vielleicht gutmütige und gebildete Tanten pflegen, wenn sie über die Kinder ihrer Geschwister reden. Aufgebrochen wird diese Erzählweise immer dann, wenn historische Fakten geliefert werden und real existierende Schauplätze beschrieben werden. Tatsächlich lohnt es sich, während der Lektüre hin und wieder im Lexikon nachzuschauen, so komplex sind einerseits die politischen Verwicklungen, so vielfältig sind andererseits auch die nicht immer leicht erkennbaren Anspielungen im Roman.
Wir befinden uns in Argentinien im Jahre 1974, genauer gesagt: in einem kleinen Stadtviertel namens Ballester der Hauptstadt Buenos Aires. Staatspräsident Juan Perón stirbt am 1. Juli, nachdem er wenige Monate zuvor erst wieder in das Amt gewählt worden war, dass er schon einmal inne hatte, bis er 1955 vom Militär gestürzt worden war. Mit seinem Tod scheint für die Bewohner in Ballester eine Welt unterzugehen; sie spüren zumindest, dass sich ihr Land wieder in eine Diktatur verwandeln wird. Allerdings hat Perón diese Entwicklung mitzuverantworten. Seine Machtbasis zerbrach schon kurz nach dem Amtsantritt, weil sich seine Anhängerschaft in ein rechtes und in ein linkes Lager aufteilte, während er sich zum rechten Autokraten entwickelte und sein Wohlfahrtsminister López de Rega viele politische Gegner ermorden ließ. Nach Peróns Tod übernimmt zwar formell seine zweite Frau Isabell Martinez die Macht, doch sie ist zu schwach, um einen weiteren Militärputsch zu verhindern.
In diesem historischen Setting spielen Barbettas Erzählungen im Stadtviertel Ballester, das die Autorin gut kennt, ist sie doch selbst dort aufgewachsen. Der erste Teil des Romans konzentriert sich auf Teresa, die sich nicht nur brennend für alles interessiert, was in ihrer Nonnenschule mit einem großen Tabu belegt ist, also alle irdischen Freuden. Sie praktiziert auch eine kuriose Form der Befreiungstheologie, in dem sie in Ballester mit einer Plastikmadonna von Tür zu Tür wandelt, auf dass sich die frohe und einzig wahre Botschaft verbreiten möge. Glaube und Aberglaube spielen in dieser Gesellschaft eine große Rolle, bilden sozusagen die Kehrseite zum politischen Fanatismus. Gespenstisch ist das inszenierte Totengedenken an den verstorbenen Präsidenten, wahnwitzig und wiederum tödlich die Prügelorgien an seinem überdimensionierten Mausoleum.
Diesen Irrwitz fängt Barbetta sehr gut ein, vor allem im zweiten Teil des Romans, der von den Mechanikern einer Werkstatt namens »Autopia« erzählt, in der - nomen est omen - nicht nur kaputte Motoren repariert, sondern auch über ein besseres Leben gesprochen wird. Die Menschen träumen im Friseursalon »Ewige Schönheit« von einem Leben in Freiheit und Frieden, und vor allem die Mitarbeiter vom »Ballester Lokalanzeiger« realisieren sehr bald, dass ihnen auch ein Lottogewinn nicht helfen wird, wenn die Todesschwadronen vor der Tür stehen.
Dabei ist das Figurentableau bewusst breit angelegt und die Struktur des Romans wiederum äußerst kleinteilig. Man könnte also durchaus meinen, Ballesters verwinkelte Stadtstruktur entspreche der Romanform. Es stellt sich aber bald die Frage, ob der erzählerische Aufwand tatsächlich aufgeht, ob aus dem Sprach- und Gesellschaftspuzzle, ob aus dem Wirrwarr der Stimmen und Formen insgesamt ein gelungenes Kunstwerk entsteht. Oder ist das Spiel mit den vielen Schrifttypen, die ständigen Szenenwechsel, das Kontrastieren von eher banalen Dialogen und historischer Analyse nicht selbst wiederum literarisches Blendwerk, das Barbetta wiederum zu ironisieren weiß? Weder ästhetisch noch inhaltlich wird man dem Roman vollends auf die Schliche kommen, was offenbar einem Großteil der Kritik gut gefällt - »Nachtleuchten« steht nicht nur auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis, sondern auch auf Platz eins der SWR-Bestenliste.
Vielleicht lacht sich María Cecila Barbetta auch ins Fäustchen, amüsiert sich über ihren Roman-Hokuspokus, der vor Einfällen sprüht, in seiner ausgestellten Kunstfertigkeit aber auch angeberisch daherkommt. Wem mag man diesen Roman empfehlen? Den deutschen Bischöfen? Mühsam ist die Lektüre, leidvoll ist das Leben in der religiösen Romanwelt. Am Ende sehen wir die Menschen in Ballester mit den Augen der Plastikmadonna, deren Haupt gleich zersplittern wird und die in diesem Moment begreift, dass sie am Weltlauf nichts ändern wird. »Sie ist mit ihrem Latein am Ende und deshalb mit sich im Reinen.« Was um Himmels Willen will uns die Autorin damit sagen?
Maria Cecilia Barbetta: Nachtleuchten, S. Fischer, 528 S., geb., 24 €
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