Marshmallow-Maximierung

Ein berühmtes psychologisches Experiment zur Selbstkontrolle ist neu zu deuten. Von Martin Koch

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 7 Min.

Menschen haben vor allem dann Erfolg im Privat- und Berufsleben, so behaupten Sozialpsychologen, wenn sie schon als Kind fähig sind, ihr Verhalten selbst zu kontrollieren. Auch Roy Baumeister, Motivationsforscher an der University of Queensland in Australien, vertritt diese Auffassung mit Leidenschaft. In seinem Buch »Die Macht der Disziplin« erklärt er dazu: »Selbstkontrolle ist der wahre Glücklichmacher, Selbstkontrolle macht Kinder im späteren Leben stark. Leute mit viel Selbstkontrolle führen im Schnitt bessere und längere Beziehungen als Menschen, die sich weniger gut im Griff haben. Sie werden mehr gemocht und anerkannt. Sie sind weniger gestresst, fühlen sich weniger schuldig, können sich besser an neue Situationen anpassen und sind weniger beratungsresistent.«

Zur Begründung solcher Hymnen auf die Selbstkontrolle dient häufig ein Experiment, das der kürzlich verstorbene österreichisch-amerikanische Psychologe Walter Mischel vor einem halben Jahrhundert an der Stanford University durchführte. Die Rede ist vom sogenannten Marshmallow-Test - der Name geht zurück auf eine in den USA beliebte Süßigkeit aus Schaumzucker.

Seine Versuchspersonen, Kinder zwischen vier und sechs Jahren, fand Mischel größtenteils in seiner akademischen Umgebung. Der Test selbst lief wie folgt ab: In einem von außen einsehbaren Raum saß jeweils ein Kind vor einem Tisch, auf dem der Versuchsleiter die Süßigkeit platzierte. Anschließend verließ er unter einem Vorwand den Raum und bat das Kind, erst dann zuzugreifen, wenn er wieder zurück sei. Zur Belohnung für das Warten gäbe es dann mehr Marshmallows. Normalerweise kehrte der Versuchsleiter nach 15 bis 20 Minuten in den Raum zurück. Doch so lange hielten die meisten Kinder nicht durch. Sie griffen früher nach der Süßigkeit (im Schnitt nach acht Minuten) und verzichteten damit auf eine zusätzliche Belohnung.

Unter den Versuchspersonen befanden sich auch Mischels Töchter, von denen er später gelegentlich erfuhr, wie sich andere getestete Kinder entwickelt hatten. »Hin und wieder fragte ich, wie geht es eigentlich Susie, oder, was macht George. Ich schrieb mir die Antworten auf und entdeckte einen verblüffenden Zusammenhang zwischen den Testresultaten und den Kommentaren meiner Töchter.« Kinder, die ihr Verlangen nach der Süßigkeit bis zur Rückkehr des Leiters hatten zügeln können, waren in der Schule offenbar erfolgreicher als Kinder, die solche Selbstbeherrschung nicht zeigten.

Das brachte Mischel auf die Idee, die an dem Test beteiligten Mädchen und Jungen nach 15 Jahren noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Was dabei herauskam, galt damals als wissenschaftliche Sensation. Anhand der Resultate des Marshmallow-Tests, so behauptete Mischel, könne man die künftigen gesellschaftlichen Entwicklungschancen eines vierjährigen Kindes vorhersagen. Oder anders ausgedrückt: Je besser ein Kind im Test seine Wünsche zu kontrollieren vermag, desto kooperativer und ausgeglichener wird es später sein, desto mehr Erfolg wird es in der Schule und im Beruf haben. All dies passte recht gut zu dem in den 1960er Jahren verbreiteten Erziehungsmodell, wonach Kinder lernen sollten, sich zurückzuhalten, dem Genuss zu entsagen und die von Erwachsenen aufgestellten Regeln ungefragt zu akzeptieren.

Zwar warnte Mischel selbst im Nachhinein, man möge die Ergebnisse seines Experiments nun auch nicht überbewerten. Denn die Zahl der von ihm getesteten Kinder sei nicht allzu groß gewesen. Außerdem habe er es versäumt, die soziale Herkunft sowie die Bildungsressourcen der Kinder bei der Auswertung zu berücksichtigen. Es half aber nichts: Nachdem andere Forscher Mischels Annahmen im Wesentlichen bestätigt hatten, ging dessen Theorie des Belohnungsaufschubs in den Fundus der als gesichert geltenden Erkenntnisse der Sozialpsychologie ein. Mittlerweile ist die Theorie auch einem breiteren Publikum geläufig. Dafür sorgte vor allem der US-amerikanische Psychologe Daniel Goleman. In seinem 1995 erschienenen Bestseller »Emotionale Intelligenz« beschrieb er die Fähigkeit, kurzfristige Wünsche zugunsten langfristiger Ziele aufzuschieben, als eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Lebensbewältigung.

Spätestens durch den Eingang des Tests in die populäre Ratgeberliteratur wechselten die Schaumzuckerstückchen quasi das Genre: Aus einer Untersuchung wurde ein Erziehungsleitfaden. So lässt sich wohl sagen, dass der Schaumzuckertest über lange Jahre nicht nur vermeintlich exakt und wissenschaftlich gesichert all jene Imperative des stets den Nutzen kalkulierenden und investierenden - kurzum unternehmerischen - Alltagsverhaltens zu bestätigen schien, die schon der Soziologe Max Weber als »Geist des Kapitalismus« porträtiert hat. Darüber hinaus spielte der Test als Topos gerade in den 1990er Jahren, als die westlichen Gesellschaften von einem starken Schub weiterer Vermarktlichung erfasst wurden, auch eine nicht unerhebliche Rolle in der Verbreitung solcher Einstellungsmuster.

Das scheinen auch die Resultate des Psychologen John Protzko von der University of California in Santa Barbara zu belegen. 2017 wertete er die Ergebnisse aller seit Mischels erster Reihe durchgeführten Marshmallow-Tests noch einmal aus. Dabei stieß er auf ein klares Muster: Die an den verschiedenen Testreihen beteiligten Kinder konnten den Verzehr der Süßigkeit mit den Jahren immer länger aufschieben. Das heißt, Kinder legen heute im Test eine deutlich höhere Selbstbeherrschung an den Tag als Gleichaltrige vor vier oder fünf Jahrzehnten. Warum das so ist, mag Protzko aufgrund seiner Daten zwar nicht erklären. »Man liegt jedoch vermutlich falsch«, sagt er, »wenn man, wie viele Entwicklungspsychologen, annimmt, dass bei Kindern aufgrund der vielfachen Ablenkungen im Alltag die Selbstdisziplin und Selbstkontrolle schwinde.«

Interessanter noch ist, was die Psychologin Celeste Kidd von der Rochester University im US-Bundesstaat New York herausgefunden hat. Bevor sie mit einer Gruppe von Kindern den klassischen Marshmallow-Test absolvierte, durften sich die Mädchen und Jungen an einem Kunstprojekt beteiligen. Dabei wurden sie von den späteren Versuchsleitern begleitet, von denen sich einige als zuverlässig, andere als unzuverlässig erwiesen. Letztere versprachen den Kindern zum Beispiel etwas, was sie dann nicht hielten. Bei dem anschließend durchgeführten Test warteten Kinder, die ihren Versuchsleiter als unzuverlässig erlebt hatten, nur drei Minuten, bis sie zugriffen - die mit dem zuverlässigen Versuchsleiter hingegen durchschnittlich zwölf. »Auf Belohnungen warten zu können, spiegelt nicht nur die Fähigkeit eines Kindes zur Selbstkontrolle, es offenbart auch seinen Glauben an den praktischen Sinn des Wartens«, meint Kidd. Selbstkontrolle ist demnach nur dann sinnvoll, wenn sie sich lohnt. Wer dagegen befürchten muss, am Ende des langen Wartens mit leeren Händen dazustehen, wird die Gelegenheit nutzen und sich möglichst schnell in den Besitz der begehrten Süßigkeit bringen.

Die Untersuchungen von Protzko und Kidd machen deutlich, dass die Fähigkeit zur Selbstkontrolle kein stabiles beziehungsweise genetisch festgelegtes Charaktermerkmal darstellt, sondern maßgeblich von sozialen Erfahrungen abhängt. Namentlich in einem unsicheren und von Mangel geprägten sozialen Umfeld, so vermutet Kidd, ist Belohnungsaufschub für Kinder keine Erfolg versprechende Strategie. Sie wird deshalb auch im Marshmallow-Test häufig vermieden.

Den großen Schlag gegen den lange kanonisierten Test führte indes die Fachzeitschrift »Psychological Science«, als sie kürzlich eine Studie des US-Bildungsforschers Tyler Watts veröffentlichte. Dieser hatte mit zwei Kollegen die Grundannahmen von Mischels Theorie noch einmal in großem Maßstab überprüft. 900 Kinder im Alter von viereinhalb Jahren mit unterschiedlichem Klassenhintergrund nahmen daran teil. Alle absolvierten zunächst den Marshmallow-Test und wurden mit 15 Jahren erneut begutachtet. Bei der Auswertung der Daten stellten die Forscher einen nur schwachen Zusammenhang zwischen der Willenskraft der Kinder und deren späterem Verhalten fest. Eine Ausnahme bildeten die schulischen Leistungen, die im Schnitt umso besser ausfielen, je länger die Kinder imstande waren, auf ihre Belohnung zu warten. Sobald man jedoch die familiäre Herkunft und andere soziale Faktoren aus den Daten herausrechnete, ging auch dieser Zusammenhang verloren.

Gegenüber dem britischen »Guardian« fasste Watts die Resultate der von ihm geleiteten Untersuchung jüngst so zusammen: »Wir fanden praktisch keine Korrelation zwischen den Ergebnissen des Marshmallow-Tests und einer Vielzahl von jugendlichen Verhaltensweisen. Mit anderen Worten: Wenn Sie Eltern eines vierjährigen Kindes sind, das ohne zu warten nach einer Süßigkeit greift, sollten Sie sich keine allzu großen Sorgen machen.« Diese für Mütter und Väter tröstliche Botschaft gilt jedoch nur für Kinder, die in sozial stabilen Familien aufwachsen. Hier liefern die Daten des Marshmallow-Tests erwiesenermaßen keine brauchbaren Erkenntnisse über die späteren privaten und beruflichen Erfolgsaussichten eines Individuums.

Nutzlos ist der inzwischen mehrfach modifizierte Test trotzdem nicht. Er muss nur anders gelesen werden, nämlich sozusagen aus einer Klassenperspektive. So verstanden weist er darauf hin, dass Kinder aus sozial unsicheren Verhältnissen oft gar nicht erst dahin kommen, die Fähigkeit zur Selbstkontrolle zu erlernen. Dadurch wiederum schmälern sie ihre eigenen Entwicklungschancen zumindest in einer Gesellschaft, die einen Investorenhabitus und die Gewinnmaximierung zur Norm erhebt - nicht nur, wenn es um Marshmallows geht.

Hingegen gölte vielleicht ja auch in einer anderen Gesellschaft die psychologische Lebensweisheit: Ein Mensch, der sich gegenüber anderen beherrschen kann, wird für kompetenter gehalten als jemand, der rasch außer sich gerät.

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