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Das verkannte Erbe
Was ist von der Ost-Kunst und Ost-Kultur in der gesamtdeutschen Gegenwart geblieben?
Strahlendes Wetter, und die Feierlaune um den Staatsfeiertag der deutschen Einheit getrübt. Wie das? Ausgerechnet dieses Jahr so säuerlich nachdenkliche Mienen? Sollte da am Ende schon etwas Reue einkehren, dem Osten eine zu radikale kapitalistische Umgestaltung verpasst zu haben? Der thüringische Ministerpräsident wagt das Desaster der Plattmache der Ostwirtschaft durch die Treuhand anzuprangern. Eine sächsische Ministerin begibt sich unter ihr Volk, vernimmt dessen Groll über vertane Lebenschancen und versucht, Konsequenzen einzuklagen. Der Ostbeauftragte der Bundesregierung dekoriert die obligatorische Erfolgsbilanz mit schüchternen Einschränkungen. Man bittet die Verursacher, den Schaden endlich einmal wahr zu haben. Tiefer gehende Erkenntnisse? Fehlanzeige.
Es musste alles von Grund auf falsch gewesen sein. Glücksritter bis hinauf zum kleinen Kurt, dem König der Wahlsachsen, erfanden einen fantastischen »Neuaufbau«. Und das für Leute, die in harter Arbeit etwas aufgebaut hatten, was bei allen Mängeln ihr Eigenes war. Und es nun nicht mehr sein sollte. Selbst Sprache und Geschichte, immer als gemeinsam angemahnt, wurden nun als trennend gesehen. Gebäude abreißen, Kunst entfernen, Bücher entsorgen, Musik ungespielt vergessen - so überwältigt man eine Gegenwart. Menschen merken, dass ihnen auf einmal etwas fehlt. Mit Bildern, Texten oder Liedern sind sie aufgewachsen. Am Ende blieben sie auf Sandmännchen und Grünem Pfeil sitzen. Noch.
Und obendrein dieser Verdacht, übers Ohr gehauen worden zu sein. Was eine schweigende Mehrheit einsichtsvoll an Kröten geschluckt hat, kotzt eine randalierende Minderheit nun als demonstrierender Mob aus. Die Gesichter der Demos von 1989, und die von heute - welch ein fundamentaler Unterschied.
Kunst und Kultur waren nie wirklich geteilt. Nun zählt die ach so selig machende Kultur des Westens. Die besten Filme, die besten Bücher und die besten Bilder sind klar verortet. Wer hat Architektur, Design, Mode oder Medien bestimmt? Ist man auf geheiligtem Westboden geboren, weiß man um den Wert des »Eigenen«. Das »Andere« ist ehemalig, weil systemnah. Wer von den Jüngeren das große Wort führt, hat das intus. In den Museen von Flensburg bis Konstanz lebt die westliche Wertegemeinschaft ihre Ausschließlichkeit durch Ausschluss.
Ist Berlin kulturell die Hauptstadt aller? Mitnichten! Einst Westberliner Institutionen pflegen halt ihr Eigenes. Der Sender SFB lebt in Gestalt des RBB weiter. Er pflegt öde Distanz zu einem allen Ostfragen offenen MDR. Dort wäre ein so radikal westorientierter Talkmaster wie Jörg Tadeusz nicht vermittelbar. Hier gerät ihm die Pilotsendung eines Halbstunden-Plauschs mit Kati Witt am Vorabend des 3. Oktober zum kruden Verhör. Davor 65 Jahre Kabarett »Die Distel«. Was durfte es, und was nicht? Nix anderes zählt. Zwischentöne schon mal gar nicht!
Die Akademie der Künste öffnet sich weltweit. Ihr Ost-Erbe bleibt im Depot. Der dort 1960 gestiftete Käthe-Kollwitz-Preis gelangte 1994 letztmalig in Folge in Osthand. 2018 erhielt ihn die elitäre US-Konzeptkünstlerin Adrian Piper. Ihre spröde Videowand »Mauer« schimmert als einzige Kunst durchs Fenster am Pariser Platz, vor dem das gigantische Einheits-Spektakel tobte. Am parallelen Standort Hanseatenweg geht bis Jahresende dafür bildkünstlerisch das Licht aus. Der Hamburger Bahnhof macht seinem Namen alle Ehre, indem er sich rein westorientierten Großsammlern unterordnet. Das Parfüm der Schickeria durchweht die Hallen.
Ostberliner Kunstleistungen sucht man in der Berlinischen Galerie vergebens. Kolbe-Museum und Brücke-Museum zählen betrachtende Ostbesucher zu ihren Liebhabern. Deren eigene, so stark dem Erbe Kolbes und der »Brücke« verpflichtete Künstlerschaft ignorieren sie. Das Atelierhaus des Kunsthauses Dahlem jubelt uns jetzt ein ganzes Jahr lang figürliche Plastik aus dem 1950 nur mühsam entnazifizierten Münchner Haus der Kunst unter. Die 1946 noch von Dresden aus gastgebenden Bildhauer jenseits des Eisernen Vorhangs waren da bereits eliminiert.
Schotten dicht, hieß das. Integrieren, ein Fremdwort. Und der Osten? Flüchtlinge wurden Umsiedler. Ihre andersartige Mentalität brachte kulturelle Vielfalt. Staatsoffizielle Israel-Feindschaft wird nun als Antisemitismus ausgelegt. Dabei war hier die Zahl prägender jüdischer Remigranten gerade im Kulturleben ungleich höher als im Westen. Sie wurden im immerwährenden geistigen Konflikt dennoch das, was man Hiesige nennt.
Das Draufkleben des politischen Etiketts ist eine billige Art, auszusondern. Wo Repression Schaden anrichtete, wirkt Restauration nun oft wie der reine Frust. Einst für jene Kulturpolitik Verantwortliche haben längst die demokratische Nagelprobe bestanden, indem sie so manche Kunstgalerie des »Beitrittsgebietes« attraktiv machten. Ob in Erfurt oder Halle, Neubrandenburg oder Cottbus, Schwerin oder Frankfurt - überall war ihr fortwirkender Sachverstand zu spüren. In Berlin sowieso.
Niemand verhehlt: Ja, da gab es die ideologische Schmalspur. Von der abzuweichen riskant war. Ja, vieles musste man im Widerstand durchsetzen. Doch vieles war eben wünschbares Programm. Die neue Ideologie bestreitet das. Dabei ist sie nur das Spiegelbild der alten. Ja, verheerend genug, diese ekelhaften Geheimdienstakten. Aber nun dienen Berichtsätze daraus der pauschalen Herabsetzung von soliden Lebensleistungen. Was dem Liedermacher Gerhard Gundermann widerfuhr, dessen Biografie lange Zeit auf seine IM-Tätigkeit reduziert wurde, war kein Einzelfall.
Darf man fragen, worin das Gesamtdeutsche in den Künsten zu finden ist, wenn ständig weiter separiert wird? Mager genug ist querbeet die Bilanz. Die kulturelle Wertschöpfung dörrt aus. Die Eigenen ins Töpfchen der hochwohllöblichen Präsentation. Die Anderen ins Kröpfchen des alles verschlingenden Vergessens. Die Richtung weisenden »documenta«-Ausstellungen in Kassel beherbergten in den Zeiten des Kalten Krieges mehr ostwärtige künstlerische Handschriften, als in den sechs Monsterschauen danach. Der jetzt bis zur Unkenntlichkeit aufgelöste Kunstbegriff marktgängiger Superhits zeigt nur das Zerrbild einer gesichtslosen Globalisierung. Nachbarländer halten dagegen ihr Selbstbewusstsein hoch. Wir blamieren uns in der Fortsetzung einer von den Aktiven der Künste nie gewollten - und auch nicht gelebten Teilung.
Ende der Durchsage. Nach rauschhaft durchlebter Euphorie kann man auf den Teppich zurückkehren. Ehe die scharfe Prise einer Krise alles aufdeckt, ist der verständige Mensch zu gewissen Einsichten fähig. Eine Ausnüchterung ist nie angenehm. Wo sie stattfindet, geht es nicht zimperlich zu. Alle, denen diese Tonart hier zu scharf ist, bittet der Verfasser um Nachsicht. Nur die Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.
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