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Draht in die Welt
Im Kino: »Ex Libris«, der neue Dokumentarfilm von Frederick Wiseman, ist ein großer Gesang auf die gelebte Demokratie
Der neue Dokumentarfilm von Frederick Wiseman, »Ex Libris«, führt in die Public Li᠆brary, die gigantische öffentliche Bibliothek von New York und ihre Zweigstellen. Aber er handelt nur am Rande vom Funktionieren dieser Bibliothek oder von Bibliotheken im Allgemeinen. In den fast dreieinhalb Stunden des Films ist nicht ein einziges Mal das Magazin mit seinen vermutlich beeindruckenden Fluchten von Bücherregalen zu sehen. Eher selten kommen der wissenschaftliche Dienst, Manuskripte oder Bücher ins Bild. Es geht hier gar nicht um eine Bibliothek, es geht um die Demokratie.
Das erklärt sich ganz einfach: Auf der ganzen Welt, besonders aber in den USA sind die Armen vom Wissen abgeschnitten. Beispielsweise hat ein Drittel der Bewohner von New York keinen Zugang zum Internet. Damit fehlt ihnen der zur Zeit wohl wichtigste Draht in die Welt. Diesen Zustand soll die Public Library mildern, indem sie die nötigen Geräte ausleiht. In einem Land, das von einer Universitätsaristokratie geführt wird, ist die öffentliche Bibliothek oft die einzige Möglichkeit für die Armen, sich wichtige, manchmal lebenswichtige Informationen zu beschaffen. In »Ex Libris« ist einmal ein gebeugter Mann zu sehen, der an einem Lesegerät einen Artikel über Darmkrebs sichtet und sich hastig Notizen macht. Er könnte ein Arzt sein, aber ist doch wohl eher ein Kranker, der sich den Arzt nicht leisten kann.
So wie dieser Mann suchen viele, die sich selbst helfen wollen, die Bi᠆bliothek, ihre Wissensspeicher, aber auch ihre Kurse und Veranstaltungen auf. Wenn es gut geht, kommen sie miteinander ins Gespräch. Sie bilden die lebendige Gemeinschaft derjenigen Armen, die sich nicht aufgegeben haben. Dass viele Afroamerikaner darunter sind, wird nicht erstaunen. Ihre Geschichte ist der rote Faden des Films. Einmal ist ein von der Public Library veranstaltetes Seminar zu verfolgen, in dem das Verhältnis von Karl Marx, Abraham Lincoln und den »Ideologen des Südens« zur Sklavenfrage auseinandergesetzt wird. Dass auf so hohem Niveau über dieses Thema gesprochen werden kann, liegt auch daran, dass die Library das Erbe von Arturo Schomburg pflegt.
Schomburg (1874 - 1938) war der Sohn einer von den Antillen stammenden Hebamme und eines deutschen Händlers, der sich auf Puerto Rico niedergelassen hatte. Ein Lehrer sagte dem jungen Schomburg, die Schwarzen hätten noch nie etwas geleistet, ja, sie hätten keine Geschichte. Diese Kränkung verfolgte ihn sein Leben lang. Erst auf Puerto Rico, später in New York sammelte er Schriften, Kunstwerke und Dokumente von nichtweißen Menschen und veröffentlichte die erste Bibliografie der afroamerikanischen Dichtung. Den Geist dieses Mannes, der sich mit einfachen Jobs als Bote und Bankangestellter über Wasser hielt und nie aufhörte zu forschen und zu kämpfen, fängt der Film ein.
Frederick Wiseman ist gewissermaßen der Otto Preminger des Dokumentarfilms. Wie für Preminger sind auch für ihn die US-amerikanischen Institutionen das große Thema - ob es eine psychiatrische Klinik, eine Polizeistation oder das Sozialamt ist, er kommentiert nie direkt; aber sehr direkt dokumentiert er, mit der Kamera immer dicht am Geschehen. Ihn interessieren die Menschen in der Institution. Er ist nicht bloß neugierig auf sie, er ist hungrig nach ihnen, geradezu unersättlich. In »Ex Libris« zeigt sich das an den enorm vielen Porträts von zufälligen Besuchern der Bibliothek und ihrer Veranstaltungen, alte Frauen und picklige Jugendliche, mit aufgerissenem Mund Lauschende und vor sich hin Dösende, Blinde und Sehende ... Menschen, Menschen, Menschen.
Ken Oharas Fotoserie »One« (1970) kommt in den Sinn. Sie zeigt 500 Gesichter aus New York, immer im selben Anschnitt und Format. Doch wenn es der Betrachter nach etwa 100 Gesichtern Oharas aufgibt, auf Besonderheiten zu achten, und zu dem Schluss kommt, dass Menschen einander ziemlich ähnlich, ja, dass sie vielleicht sogar »eins« sind, erreicht Wiseman seine Einheit durch verblüffende Vielfalt. Was sieht man da für starke Physiognomien, was für interessante Gesichter!
»Ex Libris« sollte »Extra Libros« heißen, der Film geht nicht aus den Büchern hervor, er spielt jenseits von ihnen. Er ist ein großer Gesang auf die Demokratie von unten, ein Walt Whitman’sches Epos. Wer die Hoffnung noch nicht aufgegeben hat, schaue ihn sich an.
»Ex Libris - Die Public Library von New York«, USA 2017. Regie: Frederick Wiseman. 197 Min.
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