Macht gebiert Ohnmacht

Karin Beiers großartiger »König Lear« am Hamburger Schauspielhaus

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 7 Min.

Auftritt Lear. Ein graumäusiger Anzugträger mit fliegendem Grauhaar, wie ein Stummfilm-Gespenst immer an der Wand der weißem Guckkastenbühne von Johannes Schütz entlangschleichend. Halb ein Wicht von Sparkassendirektor, halb eine Furie der Vernichtung. Der Riss der Zeit geht mitten durch ihn hindurch. Edgar Selge spielt Lear ohne jede selbstschützende Distanz - lädt ihn sich auf seinen schmalen, am Ende nackten und schließlich von einer Art Totenhemd bedeckten Leib, trägt drei Stunden schwer an ihm.

Was hier gespielt wird, ist schnell klar: die Chronik einer unaufhaltsamen Vernichtung. Die des Vaters durch seine »schrecklichen Kinder« (Peter Sloterdijk), die des alten Königs durch die neuen Könige. Der Lauf der Welt? Nein, eher das Protokoll einer Endzeit. Die Zeit ist noch genauso »aus den Fugen« wie im »Hamlet«, dem Drama des jungen Intellektuellen angesichts der Macht.

Lear, kein Intellektueller, sondern einer alter Politiker, denkt nicht viel nach - er herrscht. Bis eben nach unhinterfragten Regeln, die er für naturgegeben hielt. Welch ein Irrtum! Regisseurin Karin Beier blickt konzentriert auf die Verwüstung von Mensch und Gesellschaft. Sie findet auf der leer geräumten Bühne, deren Boden einer abschüssigen Ebene gleicht, überwältigend starke Bilder für den inneren und äußeren Ausnahmezustand.

Die märchenhafte Eingangsszene: Lear, seine drei Töchter herbeirufend, ihnen eröffnend, er gedenke, bereits jetzt sein Königreich an sie zu vererben. »Bringt die Karte!«, ruft er - und ein schwerer Teppich wird herbeigetragen. Dies Erbe ist gewaltig, es sticht in die Augen, wenn er auf der Teppich-Karte das gedrittelte Königreich abmisst. Erbe? Eher eine Beute, die es an sich zu reißen gilt. Wäre Lear ein Philosoph und kein machtverwöhnter Herrscher, er wüsste, dass man nicht zu Lebzeiten etwas vererben kann. Damit es Erben gibt, muss erst der, der etwas vererbt, von der Bildfläche des alltäglichen Geschehens verschwunden sein. Tot und begraben - was dann mit seinem Erbe geschieht, geht ihn nichts mehr an. So profan, so brutal.

In zwei der Töchter, Goneril (Carlo Ljubek) und Regan (Samuel Weiss), erwacht dann auch sofort die Gier. Die Travestie der Macht, hier wird sie deutlich in greller Überzeichnung. Beide überbieten sich in Lobsprüchen auf den Vater, singen ihm grelle Lieder der Liebe. Ein echter Sängerwettstreit aus lauter falschen Tönen um das größere Stück Erbe-Kuchen bricht los in aller schrillen Obszönität der entfesselten Interessen. Doch Lear scheint taub für all die falschen Töne. Ist er als Alleinherrscher so an sie gewöhnt, dass er echt nicht von unecht, wahr nicht von falsch unterscheiden kann?

Um Lears Menschenkenntnis steht es schlecht, um seine Urteilskraft als Politiker ebenso. Wie anders ist es möglich, dass er Cordelias, der dritten Tochter, Weigerung, in die hemmungslose Schmeichelei der Schwestern einzustimmen, ihren knappen Bescheid, sie zolle ihm allen selbstverständlichen Respekt und die Liebe einer Tochter, die ihm gebühre, als Affront auffasst? Mehr nicht, und das ausgerechnet von seiner Lieblingstochter? Lear als böser Alter, von allen guten Geistern verlassen, Cordelia verstoßend: »Nimm deine Ehrlichkeit als Mitgift!«, ruft er ihr nach, nicht ahnend, dass er sich selbst mit diesem lieblos-törichten Fluch richtet, dass sich diese Worte bald schon gegen ihn kehren werden.

Jetzt beginnt die Tragödie Lears, die immer auch eine Tragikomödie ist: die der Macht und der Illusionen, die sie weckt. Denn er hat sich beim voreiligen Verteilen des Erbes einige Bedingungen ausgebeten: einhundert Ritter etwa, die ihn begleiten werden, wenn er abwechselnd bei Goneril und Regan wohnt. Und er will die Würden eines Königs behalten. Aber wie das - ohne mehr dessen Macht zu besitzen?

Jetzt beginnt sein Martyrium: das eines Toten, der beerbt wurde und das Unglück hat, als Mensch noch auf und nicht unter der Erdoberfläche zu weilen. Lear ist ein lebender Toter, ein Untoter, ein Gespenst, ein bloßer Schatten seiner selbst! Was er im Besitz der Macht nicht lernte, das lernt er nun als Machtloser, der sich anmaßt, mit Königswürden behandelt zu werden. Wozu diese Umstände?! Die eben noch Loblieder auf den Vater und König singenden Schwestern Goneril und Regan, neue Inhaber der Macht, zeigen sich höchst genervt. Auch noch Ansprüche stellt dieser lästige Alte!

Lear versteht die Welt, seine Töchter und sich selbst nicht mehr - aber er muss auf bittere Weise lernen, wie seine Lage ist: aussichtlos. Er ist ein Bettler, sein Weiterleben über das Ende seiner Macht hinaus bedeutet das pure Leiden eines Unzeitgemäßen. Edgar Selge spielt diese Demontage eines gedemütigten und schließlich verstoßenen Herrschers mit aller physischen Wucht, bis auf die nackte Haut entblößt, die geschundene Kreatur, vom Wahn befallen, für Momente doch wieder von klarer Vernunft, aber, weil er mit dieser nichts mehr anzufangen weiß, immer tiefer zurückgestoßen in den Wahn.

Selges Lear geht seinen Passionsweg ohne jede Erlösungshoffnung. Dieser sonst mit intelligentem Witz und Ironie gegen die Plagen der Welt gewappnete hochvirtuose Schauspieler lässt schließlich alle Schutz-Schilder sinken und setzt Lear dem irrsinnig machenden Schmerz aus. Erkennend, dieser macht alle gleich, Reiche und Arme, Herrscher und Beherrschte.

Auf seiner Flucht, durch Goneril und Regan von ihren Höfen vertrieben, durch eine dunkle wüste Nacht irrend, hat Lear einen Begleiter, der ihm jedoch wenig hilft, nur dazu da zu sein scheint, sein durch eigene Dummheit selbst verursachtes Leid noch zu steigern, indem er es ihm immer wieder vorsagt oder vorsingt: der Narr, die wahre Stimme der Vernunft, wie sie nur im unaufhebbaren Abseits hörbar wird. Hinreißend, wie Lina Beckmann in einer Doppelrolle Cordelia und Narr zugleich ist. Nicht spitzzüngig-besserwisserisch, sondern eckig und kantig, ein mit den Worten kämpfender Dorfkasper, der sich über den bösen Witz derer verbreitet, die aus der Höhe der Macht auf den Kehrrichthaufen der Geschichte gefallen sind. »Wärst du doch erst weise und dann alt geworden!«, ruft er etwa oder auch, wenn Lear räsoniert, wie er seine Macht wieder erlangen könnte: »Du setzt auf einen Gaul, der aus dem Rennen ist!«

Ein Vorzug dieser starken Inszenierung von Karin Beier ist ihre Transparenz mitten in Shakespeares Dunkelwelt. Selten sah man auch die sogenannten Nebenfiguren der sich im Fortgang mit zunehmendem Personal verwickelnden Handlung des »Lear« in solcher Klarheit wie hier. Vielleicht wählte Beier darum mit Rainer Iwersens Übersetzung eine Stückvorlage, die nicht mit poetischen Bildern glänzt, statt dessen auf Deutlichkeit setzt, was gelegentlich jedoch etwas unangemessen Eindimensionales bekommt.

An der Spitze des zweiten Handlungsstranges steht Graf von Gloucester, ebenfalls Vater, jedoch zweier Söhne, des legitimen Edgar (Jan-Peter Kampwirth) und des illegitimen Edmund (irrlichternd zwischen Ehrgeiz und Verschlagenheit: Sandra Gerling). Der teuflische Edmund wird Edgar beim Vater denunzieren, so dass dieser, um sein Leben zu retten, als »armer Tom« durch die verödete Landschaft irrt. Lauter Heimatlose, auf der Flucht ins Ungewisse, um sie herum nur Zerstörung - wer will da noch sagen, dieses 1605 entstandene Stück sei gestrig?

Ernst Stötzner als Gloucester gehört zu jenen Schauspielern, wegen denen man ins Theater geht. Sein Weg sehend zu werden, geht über die Blendung. In der Übersetzung von Iwersen sagt er die nüchternen Sätze: »Das Beste unserer Zeit liegt hinter uns.« Andere Übersetzungen eröffnen an dieser Stelle mehr Deutungsräume, etwa die, in der es schlaglichternd heißt: »Wir haben das Beste unserer Zeit gesehen.« Ob es bereits unwiderruflich hinter uns liegt, bleibt offen.

Das Ende: unversöhnlich. Das Heer der Franzosen, an der Spitze die verstoßene Cordelia, fällt in England ein. Es herrscht Krieg. Lear hat im Wahn den Narr getötet, damit auch die Stimme der Vernunft in sich gemordet. Der Weg zurück auf den Thron ist ihm endgültig versperrt. Aber er ist ja tatsächlich alt, laut Shakespeare bereits über achtzig Jahre, wie lange will er im unseligen Spiel der Macht denn noch mitspielen - und sei es als unwürdiger Alter? Haben die nachdrängenden Jungen in all ihrer noch frischen Machtgier nicht alles Recht der Zukunft auf ihrer Seite?

»Lear« ist nicht zuletzt ein Lehrstück über den regelmäßig misslingenden Generationenwechsel. Der ewig gleiche Befund: Es wird durch neue Herrscher zwar einiges anders, aber meist nichts besser. Und vor allem, eine vergangene Zeit kann sich einer neuen niemals verständlich machen. Die Gegenwart hat immer recht, die Vergangenheit immer unrecht. Es einmal anders zu denken, hieße, überhaupt erst beginnen zu denken - und so aller selbstgewissen Gegenwart den Zweifel (die Angst, selbst die Vergangenheit von morgen zu sein) ins Fleisch zu senken.

Nächste Vorstellungen: 10.11., 11.11., 21.11., Schauspielhaus Hamburg, Kirchenallee 39.

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