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Die Explosion von Gewalt
Robert Gerwarth über das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs
Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs durch den Waffenstillstand im November 1918 war noch keineswegs der Frieden erreicht. Im Gegenteil, in vielen Teilen Europas sowie in Kleinasien brachen nun neue bewaffnete Auseinandersetzungen aus, oder stattfindende Kämpfe erhielten sogar, wie im Gebiet des ehemaligen russischen Reichs, einen starken Auftrieb. Diese Entwicklung wurde durch die Staatsbildungsprozesse angeheizt, wie sie beim Zerfall der drei großen multiethnischen Imperien Russland, Österreich-Ungarn und der osmanischen Türkei erfolgten. Das Ausmaß dieser Kämpfe war mit denen des Weltkriegs durchaus vergleichbar, nur dass jetzt auch in viel stärkerem Maße die Zivilbevölkerung Opfer war. Das betraf besonders die jüdische Bevölkerung Osteuropas.
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Robert Gerwarth: Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs.
Siedler-Verlag, 480 S., geb., 29,99 €.
Diese oftmals nicht angemessen wahrgenommene Fortdauer der Gewalt nach 1918 ist Kernthema des Buchs des in Dublin lehrenden Historikers Robert Gerwarth, der zuvor mit einer Biografie des SS-Führers Reinhard Heydrich und just auch mit einem Buch über die deutsche Novemberrevolution Aufmerksamkeit erregt hat. Dem entsprechend stellt er eine Schilderung des Massakers von Smyrna (heute Izmir) im Jahre 1922 nach der Niederlage der griechischen Truppen in Kleinasien an den Anfang. Damit war die Errichtung des neuen türkischen Nationalstaats durch Kemal Pascha besiegelt.
Dies war aber nur ein besonders herausragendes Ereignis in einem sich fast bruchlos aus dem Ersten Weltkrieg heraus entwickelnden Gewaltkontinuum. Nicht verwunderlich, dass zahlreiche zeitgenössische Beobachter notierten, es träte Krieg im Frieden auf, oder gar, es habe eigentlich überhaupt keinen Frieden gegeben.
Gerwarth schlägt dabei einen großen Bogen, der im russischen Revolutionsjahr 1917 einsetzt. Dieses brachte zwar zum einen den Frieden von Brest-Litowsk, zum anderen aber steigerten sich die Kämpfe an der Westfront im Norden Frankreichs bis zu deren Zusammenbruch im November 1918. Darauf folgt eine Skizze des fast vier Jahre dauernden russischen Bürgerkriegs. Die sich abzeichnende Machtbehauptung der Bolschewiki führte zu einer antirevolutionären Mobilisierung in ganz Europa. Sie fand ihren bedeutendsten Kristallisationspunkt im Faschismus, dessen Aufstieg sich in einer Gewaltorgie gegen die italienische Arbeiterbewegung vollzog.
Alle Versuche zur Neuordnung des Kontinents in den Friedensverhandlungen in Paris erwiesen sich als am grünen Tisch gemacht, da es in den ethnisch gemischten Reichen keine Möglichkeiten zu klaren Grenzziehungen gab, ohne dass Bevölkerungsgruppen auseinandergerissen oder sonst wie zu Verlierern wurden. Dem entsprechend erfolgte dieser Prozess der »nationalen Selbstbestimmung« auf Kosten vieler anderer Nationalitäten und war oft genug von Massakern und Vertreibungen gekennzeichnet. Gerwarths Darstellung endet mit dem Friedensvertrag von Lausanne mit der Türkei, womit ihre noch heute gültigen Grenzen bestätigt und alle territorialen Ansprüche ihr gegenüber aufgegeben wurden. Die Neuzeichnung der Landkarte Europas war damit abgeschlossen.
Mit der Darstellung dieser Jahre der blutigen Gewalt, wobei übrigens auf die Kolonialgebiete überhaupt nicht geschaut wird, korrigiert Gerwarth zweifellos das Verständnis von einer Nachkriegszeit, die im Namen eigentlich ein Ende von Gewalt vermuten ließe. Doch wie ist diese Explosion von Gewalt zu verstehen? Was war der Anstoß dafür? Hier wird die Betonung sehr stark auf die Bemühungen um die Bildung der neuen Nationalstaaten gelegt. Das ist sicherlich ein wichtiges Charakteristikum, doch keineswegs ausreichend. Die russische Revolution, mit der Gerwarths Schilderungen einsetzen, brach wegen der Kriegsfrage aus und hatte in ihrem russischen Kerngebiet einen sozialen Charakter, was auch ihr institutioneller Ausdruck in Gestalt der Sowjets (Arbeiterräte) zeigt. Das gilt ebenso für viele der anschließend dargestellten Kämpfe.
Ein Ansatz jedoch, der die Prozesse der sozialen Radikalisierung, wozu auch die erwähnten »Befriedigungsfeldzüge« der Freikorps in Deutschland, die Kämpfe in Italien 1919/20 mit der Reaktion in Gestalt des Faschismus und sogar die kurz vermerkten Kämpfe in Barcelona zwischen den anarchistischen Gewerkschaften und den Pistoleros der Unternehmer gehören, gleichsam umstandslos und ohne Bruch mit den quasi kriegsähnlich durchgeführten Nationalstaatsbildungen verbindet, kann nur eine Klammer sein. Eine Klammer für die entgrenzte, blutige und mit Millionen Toten verbundene Gewalt auf dem europäischen Kontinent vor 100 Jahren sein.
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