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Keine Rettung unterm Kapital
Karl-Heinz Dellwo über »suizidalen Faschismus«, linke Militanz und das Verharren im »Anderen«
Bolsorano wird Präsident Brasiliens, ein Antisemit tötet Jüd*innen in einer Synagoge, Trump macht aus einer Demokratie eine Autokratie, Merkel tritt wegen ihrer vermeintlich liberalen Flüchtlingspolitik ab. Stehen wir vor einem neuen Faschismus?
Der Faschismus ist eine Herrschaftsform, die die bestehenden Ausbeutungsformen sichern will - die Formen sind unterschiedlich. Mit dem Faschismus verbinden wir in Deutschland die Nazis, die offene Gewalt, den Antisemitismus. Vor kurzem bin ich auf den Begriff des »suizidalen Faschismus« gestoßen. Im Faschismus gibt es einen immanenten Zwang, durch die Zerstörung, die er mit sich bringt, am Ende auch sich selbst zu zerstören. Zwölf Jahre Nationalsozialismus sind geschichtlich ein Nichts und doch stand am Ende die Verwüstung der gesamten europäischen Welt - aber auch der Faschismus ging daran zugrunde.
Aber doch nicht wegen der Widersprüche im Faschismus selbst.
Nein, natürlich verstehe ich das nicht evolutionär oder als Automatismus.
Was hilft uns das für heute?
Die postfaschistische Zeit war zunehmend bestimmt durch einen technokratischen Herrschaftsapparat. Aber er trat in gewisser Weise unideologisch auf, indem er in der ökonomischen Logik agierte. Ab den späten 1970er Jahren wurden den neoliberalen Doxa alle Hürden beseitigt. Aktuell stellen wir fest, dass dies viele politische Verwerfungen produziert hat. Die Zahl der Menschen, die dauerhaft nicht mehr integriert werden können, nimmt zu. Eine Surplusbevölkerung, die für die Megamaschine des Kapitals einfach nicht mehr gebraucht wird. Die sind zu Recht angstbesessen und entwickeln oft eine neue Verrohung: Dazu zählt ein neuer Nationalismus, ein neuer Egoismus und eine Normalität des Ausschlusses. Und etwas anderes ist heute hinzugekommen: Der alte Faschismus versuchte, Menschen durch Gewalt in gewisse Rollen zu zwingen, heute machen das die Menschen schon freiwillig. Diese Gewaltbereitschaft hat auch wieder etwas Suizidales, denn wenn man Bolsorano in Brasilien oder Duterte auf den Philippinen betrachtet, tritt eine Vernichtungsbereitschaft gegenüber denen, die nicht mehr dazugehören, offen zutage. Wir müssen uns dabei klar werden, dass innerhalb der Logik des Kapitalismus Verhältnisse produziert werden, die einen neuen Faschismus wieder in die Welt setzen können.
Die politische Linke steht dabei in der Defensive. Warum?
Der Kapitalismus führt uns in den Abgrund und es gibt keine immanente Rettung. Diese Analyse sehe ich bei denen, die sich als Linke verstehen, überhaupt nicht.
Man muss also die Systemfrage stellen?
Absolut. Heute macht das scheinbar die politische Rechte. Die sagen: »Das System ist am Ende - Wir sind die Wende«. Aber natürlich wollen die Figuren um Bachmann und Höcke nicht den Systemwechsel, sondern einen autoritären, faschistoiden Staat. Aber sie sprechen damit die Erfahrungen vieler Menschen an. Da kommt die Linke derzeit nicht vor. Die will lediglich Bündnisse organisieren; das sind jedoch idiotische Strategien. Entweder ist es im Kern so, dass man als Linke die Idee eines neuen Kommunismus entwickelt, oder nicht. Wir brauchen eine andere Grundlage, wie wir leben wollen. Dafür müssen wir kämpfen, und damit am Ende etwas Produktives entsteht, braucht es Klassenkampf.
Das ist die Frage des radikalen Bruchs mit der Gesellschaft. Wie können hier konkrete Praktiken aussehen?
Ich bin ein Freund des Konzepts der Geschäftslosigkeit des Philosophen Giorgio Agamben. Er meint damit kein Nichtstun, sondern eine besondere Form der Tätigkeit, die nicht mehr die bestehenden Verhältnisse reproduziert. Momentan kann ich das nur in dieser Abstraktion sagen, aber wir brauchen eine Diskurs darüber, dass ein gutes Leben nur jenseits des Kapitalismus entstehen kann. Entweder wir beenden den Kapitalismus oder er beendet uns und unsere komplette Lebensgrundlage. Und ich sehe derzeit keine Linke und schon gar keine im Parlament in diese Richtung.
Weil sie in herrschenden Kategorien denkt und handelt?
Genau. Die Spielregeln bestimmen die anderen. Indem man ins bürgerliche Parlament hineingeht, hat man strategisch bereits verloren. Das ist wie im Gefängnis: Wer bestimmt die Grundlage, von der aus verhandelt wird? Das war der Hintergrund unserer vielen Hungerstreiks. Wer die Gefängnislogik übernommen hat, ist ihr zum Opfer gefallen. Die es nicht gemacht haben, haben ihr Ich und ihr Selbst behalten und entwickelt.
Das heißt, Welt- und Selbstveränderungen müssen zusammen gedacht werden?
Veränderungen, die wir wollen, müssen auch immer Selbstveränderungen sein. Diese Erkenntnis war eine der größten Stärken der 68er Bewegung. Die Agitation muss sich auch immer gegen einen selbst richten. Aktuell gibt es in der Linken keine Form antikapitalistischer Realität.
Gleichzeitig gibt es militante Projekte wie die Proteste im Hambacher Forst oder die Kampagne besetzen in Berlin.
Es ist super, dass es das gibt. Ich mag diese Leute nicht kritisieren. Aber sie müssen auf jeden Fall das Ganze bedenken und den Kapitalismus als Totalität kritisieren.
Sie leben in Hamburg und haben auch die Proteste um den G20-Gipfel mitbekommen. War dies eine solche Kritik?
Kurzzeitig wurden die Kontrollgesellschaft ausgehebelt und Eigentumsverhältnisse aufgehoben. Es hat auch Plünderungen gegeben. Aber was ist dabei, wenn sich Menschen zu ihrem mickrigen Hartz-IV-Betrag ein kleines Stück für sich nehmen. Doch die meisten habe all die Dinge genommen, sie ins Feuer geworfen und »Scheiß Konsumgesellschaft« gesagt. Das war nicht individuelle Bereicherung, sondern eine Kritik der Warenwelt.
Seitdem steht die Militanzfrage wieder etwas mehr im Fokus der radikalen Linken.
Natürlich muss man reflektieren, was da passiert ist. Man kann nicht darüber hinwegsehen, wenn Häuser angezündet werden, in denen Menschen leben. Gleichzeitig muss man sich nicht distanzieren, wenn Menschen gegen die Zumutungen der G20-Staaten demonstrieren und dabei vielleicht etwas unbedacht mit ihrer Radikalität umgegangen sind.
Wie soll man als radikale Linke außerhalb des Staates sein und trotzdem Resonanzräume in der Gesellschaft herstellen?
Gute Frage. Aber zuerst müssen wir uns damit konfrontieren, dass unsere Verinnerlichungen vielleicht auch Teil des großen Problems sind.
Ist das auch eine Kritik an Ihrer eigenen Geschichte?
Keiner ist Teil eines Geschichtsprozesses, ohne nicht auch viel falsch gemacht zu haben. Wir wollten eine revolutionäre Bewegung und hätten sie nie herstellen können. Je isolierter wir dabei wurden, je militarisierter haben wir gehandelt. So gesehen mussten wir scheitern. Wir hätten höchstens die Art des Scheiterns anders bestimmen können.
Man muss die Perspektive des Klassenkampfs einbeziehen.
Grundsätzlich bleibt es Aufgabe einer revolutionären Gruppe, die kapitalistischen Verhältnisse zu delegitimieren und darüber einen Prozess anzustoßen. Die RAF war von Anfang an mehr Stellvertreterin der Klasse als ihr Ausdruck. Am Ende herrschte die bewaffnete Form vor und nicht mehr die Suche nach dem Inhalt dessen, was Befreiung sein kann. Das ist gescheitert und war in vielem auch illegitim. Von ihr bleibt aber, dass sie den Bruch und das Nichtkäufliche zur Grundlage hatte. Sie hat die Position des »Anderen« angenommen und auch gehalten.
Achim Szepanski, Karl-Heinz Dellwo, J. Paul Weiler: RIOT - Was war da los in Hamburg? Theorie und Praxis der kollektiven Aktion. Laika, 270 S., brosch., 16 €.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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