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- "Gelbwesten" in Frankreich
Wenig Platz für Gewerkschaften
Die Gewerkschaften spielen bei den Protesten in Frankreich eine untergeordnete Rolle - das liegt auch an ihnen selbst
Seit Wochen beherrschen in Frankreich die »Gelbwesten« Straßen und Plätze. Sie fordern eine radikale Abkehr von der bisherigen Verteilungspolitik – und den Rücktritt von Präsident Emmanuel Macron. Ihr Erkennungszeichen sind die »Gilets Jaunes« - so wie schon 2013 in der Bretagne die Revolte der »Bonnets Rouges« (Revolte der roten Mützen), symbolische Anleihen an die Jakobiner aus früheren Revolutionszeiten. Wie bei der Überwindung des »Ancien Régime« singen sie die Marseillaise. Auslöser für die größten Proteste seit Macrons Amtsantritt ist die Einführung einer Ökosteuer auf Sprit.
Die Protestbewegung kämpfte für eine breite Palette von Forderungen. Im Zentrum stehen der Mindestlohn, ein solidarisches Rentensystem und ein Sozialversicherungssystem für alle, einschließlich der Selbständigen, sowie ein gerechteres Steuersystem. Keine Frage: Hier wird mit einer politischen Revolte eine Systemänderung eingefordert.
Zwar distanzieren sich die meisten »Gelbwesten« von den gewalttätigen Krawallen, aber die radikalen Aktivisten bestimmen die Erscheinungsbilder. Die Bewegung wehrt sich gegen die Vereinnahmung durch die Populisten aller Couleur. Sie ist bislang weder links noch rechts einzuordnen. Präsident Macron räumt ein: »Vierzig Jahre des Unbehagens sind jetzt aufgetaucht: das Unbehagen der Arbeitnehmer, die sich nicht mehr zurechtfinden; das Unbehagen der Gebiete, Dörfer und Viertel, in denen die öffentlichen Dienstleistungen reduziert werden und die Lebensumwelt verschwindet; das demokratische Unbehagen, in dem sich das Gefühl entwickelt, nicht gehört zu werden; das Unbehagen der Veränderungen in unserer Gesellschaft.« Es gibt also einen wirtschaftlichen und sozialen Notstand. Eine Ursache ist, dass Macrons Partei »En Marche« in anderthalb Jahren keine ausreichend schnelle und starke Antwort darauf gefunden hat.
Drei große Gewerkschaften haben sich den »Gelbwesten« angeschlossen. Ihr Forderung: »Wir wollen ein Frankreich, in dem man würdig von seiner Arbeit leben kann.« Ob das politische Manöver (Erhöhung Mindestlohn und Rücknahme von Steuererhöhung) gelingt, ist offen. Umfragen zeigen, dass die Oppositionsparteien trotz aller Bemühungen, die »Gelbwesten« für sich zu vereinnahmen, wenig von Macrons Krise profitieren. Das Misstrauen der Demonstranten richtet sich gegen die politische Klasse insgesamt.
Aber hätten nicht die Gewerkschaften schon längst Alarm schlagen und beispielsweise eine Erhöhung des Mindestlöhne und der Tariflöhne durchsetzen können?
Frankreich gehört mit acht Prozent zu den Ländern Europas mit dem geringsten gewerkschaftlichen Organisationsgrad. Dieser Anteil ist seit Mitte der 1990er Jahre stabil geblieben. Die Gewerkschaftsbewegung in Frankreich ist in acht Dachverbände zersplittert, so dass die Verhandlungen häufig kompliziert sind. Die Legitimität und gesellschaftliche Akzeptanz der Gewerkschaften ergibt sich aber nicht nur aus der Zahl der Mitglieder. Sie wird auch durch die Beteiligung der Beschäftigten bei Wahl ihrer Vertretungen in den Unternehmen begründet. Aber auch hier zeigt sich der Machtverlust. In den vergangenen Jahrzehnten sind auf diesem Terrain die Mitwirkungsmöglichkeiten eingeschränkt worden.
Anforderungen an Gewerkschaften im Finanzmarktkapitalismus des 21. Jahrhunderts: Sie müssen ihre Strategien für kollektives Handeln modernisieren. Sie müssen ihre gesellschaftliche Basis erneuern, vor allem mit Blick auf junge und weibliche Beschäftige. Und sie müssen Formen der Kooperation entwickeln, um ihren Einfluss in den Unternehmen und dem politischen Feld zu erhöhen.
Die gewerkschaftlichen Aktionen sind oftmals Verteidigungskämpfe, die über ein Festhalten an bestehenden Strukturen nur selten hinausgehen. Dies hat dazu geführt, dass nicht nur die französischen Gewerkschaften im politischen System in den vergangenen Jahrzehnten geschwächt sind und sie an gesellschaftlicher Gestaltungsmacht verloren haben. Die Auseinandersetzungen um die Liberalisierung der Arbeitsmärkte und den Umbau der Alterssicherung sind verloren worden. Die zentrale Rolle des Staates und der Öffentlichkeit in sozialen Angelegenheiten in Frankreich hat nur wenig Platz gelassen für den Einfluss der Gewerkschaften - und die zersplitterten Gewerkschaften haben bislang den Verlust ihrer Machtbasis nicht aufhalten können.
Joachim Bischoff ist Mitherausgeber der Zeitschrift »Sozialismus« . Von 2008 bis 2011 war er für die LINKE Abgeordneter der Hamburgischen Bürgerschaft.
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