Wissen, dass es nicht lange halten wird

»Shoplifters«, der Gewinner der Goldenen Palme von Cannes 2018, kommt ins Kino

  • Felix Bartels
  • Lesedauer: 5 Min.

Dass in Cannes die Palme wackelt, sagt noch nichts über Goldregen in L.A. Dennoch dürfte ein Oscar für »Shoplifters«, trotz starker Konkurrenz bei den Einreichungen (»The Guilty«, »Burning«, »Dogman«, »Waldheims Walzer«), im nachhinein so selbstverständlich scheinen wie vor drei Jahren bei »Son of Saul«. Das hängt nicht zuletzt am sozialen Tonfall. In »Shoplifters« zeigt Koreeda Hirokazu moralisch nicht eindeutige Menschen und macht keine Vorschrift, wie man sie zu finden hat. Gleichwohl sind die punktgenauen, lakonischen Sentenzen, die Sprache der Szene und das Schauspiel des gesamten Ensembles so manipulativ, dass ein Rückzug in bloß anschaulichen Naturalismus unterbunden wird.

Die Sache begibt sich in Tokyo. Osamu und sein Sohn Shota treffen auf dem Heimweg vom Ladendiebstahl, der bei ihnen die Stelle des Wocheneinkaufs füllt, auf Yuri, ein kleines Mädchen, das hungrig ist und friert. Sie nehmen es mit nach Hause, wo sie sich eine Wohnung teilen mit Nobuyo (Shotas Mutter und Osamus Frau), Hatsue (der Großmutter und Besitzerin des Hauses) sowie Aki (ihrer Enkeltochter). Nobuyo drängt darauf, Yuri zurückzubringen, doch als klar wird, dass die Eltern sie vorsätzlich verwahrlosen lassen, nehmen sie sie bei sich auf.

Man merkt bald, dass dieser Vorfall nicht der erste war, und es stellt sich die Frage, ob hier überhaupt irgendwer mit irgendwem verwandt ist, denn diese Familie scheint sich mehr gefunden als geboren zu haben. Der Zusammenhang ist im Originaltitel angedeutet - und im etwas unglücklichen internationalen »Shoplifters« verlorengegangen: »Manbiki kazoku« heißt so viel wie ›Diebstahlfamilie‹, was beides meint: eine Familie von Dieben und die (zusammen)gestohlene Familie.

Fast zwei Drittel der Handlung gehen für die Exposition und Etablierung drauf: Wir sehen die Familie stehlend, Yuri aufnehmend, das Hineinwachsen in die Familie und ein sehr geschicktes, langsames Sichtbarmachen der eigentlichen Verhältnisse im Haus. Armut, Diebstahl, Erpressung und Kidnapping verbunden mit einem fragwürdigen Wertekosmos, den die Familie folgerichtig ausgebildet hat, schrecken zunächst ab, doch das unprätentiös-warmherzige Zusammenspiel dieser Menschen schafft ein Idyll. Diese Stimmung muss erst aufgebaut werden, ehe sie zerstört werden kann. »Du weißt, dass es nicht lange halten wird«, sagt Hatsue in einem Moment am Strand, den sie alle am liebsten festhalten würden. Der Umschlag in die Tragödie ist nicht bloß dramaturgisch. Es wird dann noch einmal ein ganzes Bündel von Geheimnissen herausgebracht, das diese Familie zusammengehalten hat, ehe der Film in einem traurigen Nachspiel endet, das zugleich einen poetischen, vorsichtigen Optimismus in die Köpfe der Zuschauer schmuggelt.

Das scheint überhaupt das Prinzip dieses Films zu sein: die hoffnungslose Lage so zu erzählen, dass auf zerschossene Weise wieder Hoffnung entsteht. Da wäre etwa die scheinbar unscheinbare Episode, worin Shota der kleinen Yuri das Stehlen beibringt. Der Ladenbesitzer übergibt die Kinder nicht der Polizei, sondern schenkt ihnen Süßigkeiten mit der Bitte, dass Shota Yuri nicht zur Diebin machen solle. Seine Haltung, seine Worte sind dabei von ungeheuerlicher Ruhe und Dignität, einer leisen Traurigkeit, die das Richtige noch erinnert, aber weiß, dass es in der falschen Lage auf bestenfalls deformierte Weise herstellbar ist. Man sieht in einem Blick die Nachsicht gegenüber den bedürftigen Kindern, das Wissen, dass Stehlen falsch ist, die Einsicht, nichts ändern zu können, und den Entschluss, es wenigstens für die kleine Yuri noch zu versuchen.

Gar nichts ist einfach. Dass der Film die Kleinfamilie weder verherrlicht noch dekonstruiert, sondern sie als bereits zerstörte rekonstruiert, macht seine Größe. Da erzählt Shota z.B. seinem Vater von Leo Lionnis »Swimmy«. Dies durchaus kommunistisch gemeinte Kinderbuch über einen Schwarm von Fischen, der überlebt, weil er die Form eines großen Raubfischs annimmt, wird hier zwar seiner politischen Seite entledigt und bloß auf die Familie bezogen, doch man könnte auch sagen, die Familie werde so als politisches Phänomen gefasst. Als soziales, nicht biologisches Konstrukt, als notwendige kleinste Gemeinschaft, in dem unbedingte Gewogenheit zumindest der Möglichkeit nach entstehen kann. Es ist weniger wichtig, wer wen geboren hat, als eben, wer für wen wichtig ist. Nobuyo sagt das fast wörtlich am Ende des Films. Damit rekapituliert »Shoplifters« den Urteilsspruch des Dorfrichters Azdak aus Brechts »Kaukasischem Kreidekreis«.

Es geht Koreeda Hirokazu aber nicht darum, die soziale Familie an die Stelle der biologischen zu setzen. Der Film erzählt die Geschichte von Außenseitern und zeigt vielmehr, dass familienhafte Strukturen, als Logik der Bedürfnisse, selbst dort entstehen, wo biologische Verwandtschaft nicht gegeben ist. Jene sechs Menschen leben, so wird angedeutet, aufgrund eines Vertrags miteinander. Rousseaus Gesellschaftsvertrag erscheint hier als Familienvertrag.

Nur ist das Allgemeine verborgen in einem Chaos aus Launen, Mangel an Reflexion, charakterlichen Inkonsequenzen und Ängsten. Selbst den Figuren, die am Ende enttäuscht und entmutigt sind, scheint kaum noch klar, dass weder Geld noch schmutzige Geheimnisse diese Familie zusammengehalten haben, sondern tatsächlich Liebe.

Künstlerisch wirkt »Shoplifters« zunächst bescheiden, doch mit Rücksicht auf das Thema erweisen sich die gewählten Mittel als organisch. Das sehr arme Milieu, in dem die Tragödie passiert, verbietet übermäßige Protzerei mit Plansequenzen, krassen Schnitten, Farbfiltern usf. Das Szenenbild nutzt die übliche Enge des japanischen Wohnraums, so dass ein plastischer Eindruck der Architektur gar nicht entstehen kann. Alles ist Innenansicht, die Familie als Unteilbares. Dem entsprechen das nicht allzu breite Format (1,85:1) sowie eine Kadrierung, die Nähe herstellt und die Figuren gelegentlich abschneidet. Der Bildrahmen macht die Begrenztheit der Leinwand gerade nicht vergessen, er setzt das Aufgehobensein in der Familie.

Eine Besonderheit des Tons geht in der Synchronfassung verloren. Das permanente Simultanreden im sozialen Nahraum gehört, nicht bloß in Form der Aizuchi, in die japanische Hörgewohnheit; es vermittelt Beiläufigkeit, Vertrautheit, Übereinstimmung, ein Rauschen von Gemeinschaft, das, von Europäern nachgesprochen, eher aggressiv wirkt. Der Wegfall dieses Einverständnisses im Klang der vielen Stimmen lässt manche Äußerung dramatischer scheinen, als sie gemeint ist.

Nur löst der Film am Ende selbst die Vielstimmigkeit auf. In paralleler Montage von Polizeiverhören werden die komplizierten, teils noch dunklen Verhältnisse der Familie, die Vorgeschichten ihrer Mitglieder beleuchtet. Erst hier, wenn die Stimmen der Familie separiert sind, ergibt sich das volle Bild. Aber mit diesem Verlust der Vielstimmigkeit verliert die Familie ihre Stimme überhaupt.

»Shoplifters« [»Manbiki kazoku«], Japan 2018. Regie: Koreeda Hirokazu, Darsteller: Kiki Kirin, Sakura Ando, Lily Franky, 121 Min.

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