Keil in Erinnerungen

Zum Tod des Schriftstellers Edgar Hilsenrath

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Dieses Werk betrachtet mit unverschämt frecher Leichtigkeit alles von der Kehrseite her, die Gespensterseite etwa von der Menschenseite. Diese Literatur wandert durch Raum und Zeit, reist durch die Epochen. Eine Odyssee durch Wirren der Menschenkämpfe. Eine Pilgerfahrt zu den wundersamen Punkten, da Dinge umschlagen ins Gewaltige, Gewalttätige, Gefügelose. Klettereien zu den Gipfeln menschlicher Kühnheit - und in die Schächte, wo die Schändlichkeit ihre beständigen, siegreichen Pläne ausheckt.

Max Schulz und Itzig Finkelstein zum Beispiel. Sie sind Kindheits- und Jugendfreunde. Beide kommen ins KZ - der eine als Häftling, der andere als SS-Mann. Der eine wird ermordet, der andere ist ein Schlächter. Nach dem Krieg wird der Schulz mit der Judennase ein Untertaucher, dann ein pfiffiger Auftaucher - und Überflieger. Indem er sich selber erfolgreich zum Juden erklärt: der Massenmörder als Märtyrer. »Der Nazi & der Friseur« heißt jener berühmteste Roman von Edgar Hilsenrath, der ob seines sarkastischen Grundeinfalls erst spät (1977) einen westdeutschen Verleger fand. Just ein Kleinverlag war es, der mit einer Veröffentlichung beschämte, die - fast dreißig Jahre nach Kriegsende! - noch immer als großer Mut galt.

Im Massenmörder, der zum erfolgreichen Juden wird, offenbart sich der wahre Terror, der regelmäßig unser Bewusstsein sprengt: die ewige Undurchdringlichkeit von Wahrheit und Lüge, die zerrende Gleichzeitigkeit von Grauen und Gewöhnlichkeit, der nahtlose Übergang von Ethik und deren Schändung. Max Schulz: ein Mitläufer, ein Mitesser, ein Mitsäufer - nämlich der Blutsäuferei, und dies akut Gebliebene macht beim Lesen still, es wirkt, es würgt. Der Mitläufer als Vorläufer - dessen, was kommt, weil es immer schon war. Festgeschrieben ist das in diesem Menschenelendssatz, der entsetzlich oft zu hören ist: Es wird schon laufen! Und dann überrollt dich das Rad der Geschichte, und jeder will später, wenn’s an die Schuld-Urteile geht, höchstens nur Rädchen gewesen sein.

Der Mitläufer wird dann gefährlich, so erzählt Hilsenrath, wenn aus entschuldbarer Anpassung klebrige Anbiederung wird. Wenn einem in der wogenden Menge - in deren Wärme, Schutz und Kraft man das vermutet, was wahr und richtig ist - plötzlich keine Berührungsfurcht mehr hochkommt. Wenn Ankunft in der Verschiebe-Masse wie ein Geburtsmoment gefeiert wird. Thomas Mann setzte gegen die landläufige Selbstschutz-Behauptung, die Deutschen seien stets eine widerwillig geschobene Menge Volk gewesen, die ja nur auf Druck der Oberen reagiert hätte, seine Tagebucheintragung vom 17. Juli 1944: »Man soll nicht vergessen, dass der Nationalsozialismus eine funkensprühende Revolution, eine deutsche Volksbewegung mit einer ungeheuren seelischen Investierung von Glauben und Begeisterung war.« Das ist der Aufruf des negativen Möglichkeitssinns: Halte dich für verführbar, und nicht nur fürs Edle. Jeder Einzelne bleibt sich gegenüber fremd, aber eine Heimat hat er immer: seine Abgründe. Mephisto warf Faust vor: Du grinsest gelassen über das Schicksal von Tausenden hin. Trifft ein Quäntchen dieses Vorwurfs nicht jeden Menschen auch heute, in unserem westlichen Wohlstand?

Geboren 1926 in Leipzig als Sohn eines jüdischen Kaufmanns, gehörte Hilsenrath zu jenen, die von Deutschland auf barbarische Weise zu Weltbürgern gemacht wurden. Die Tugend des Reisens gefriert zur Not der Flucht. Emigration nach Rumänien, Pferch im Ghetto, nach dem Krieg eine Tour der Tortur durch die Heimatlosigkeit: Bulgarien, Türkei, Syrien, Palästina. Von dort nach Frankreich, in die USA. Erst Mitte der Siebziger Jahre dann ging Hilsenrath nach Berlin.

In New York kam Hilsenrath zu literarischen Ehren (wie später auch in Frankreich), dennoch musste er als Kellner jobben, und viele seiner Bücher entstanden in Cafés, weil es daheim zu eng war. Seine Literatur wollte grob sein gegen einen heuchlerischen Feingeist und gauklerisch gegen einen ebenso fadenscheinigen Ernst. So durchziehen seine Romane groteske Atmosphären: da ein Karneval der Lemuren, dort eine Zeremonie der Zombies, allüberall ein Skizzen-Zirkus, der das Perverse putzig zeigt, das Gruslige galant. »Nicht müde werden/ sondern dem Wunder/ leise/ wie einem Vogel/ die Hand hinhalten.« Schrieb Hilde Domin; ein Gedicht auf die Sprache, auf die Hoffnung, noch im brennenden Psalm jedes Pogrom zu überleben. 2016 erhielt Hilsenrath den nach der Dichterin benannten Preis für Literatur im Exil. 2016! Die Ehrung glich einer reuevollen Selbstironie: Allzu oft mussten des Autors bundesdeutsche Erfahrungen den Anschein erwecken, als würde Ausgrenzung nur fortgesetzt.

Die Romane (»Nacht«, »Berlin - Endstation« »Das Märchen vom letzten Gedanken«, »Jossel Wassermanns Heimkehr«, »Bronskys Geständnis«) mussten sich gleichsam erst zur Gesamtausgabe formieren, ehe dieser Sanfte, Skurrile, der mit listiger Anmut seine grausigen Witze erzählt, ein geachteter deutscher Autor wurde. Der mit seiner Baskenmütze den Eindruck eines gütig gestimmten Flaneurs, nicht eines beständig Fliehenden machte. Seine Bücher schildern Ghetto-Realität, gehen den Massenmorden an Armeniern nach, lassen die Welt der Schtetls farbig erblühen. Und immer ist es, als schlurfe in diese Romane George Tabori herein, als grüße Grass’ Blechtrommler, als marschiere auch Schwejk, als flimmre Mel Brooks. Versaute Zyniker, vertrottelte Gläubige, vertierte Stiefelköpfe, verwirrte Träumer, verwilderte Ordnungs- und Ordensknechte, laszive Zwielichtgestalten.

Mosaiksteinchenklopfen fürs Ungeheuerliche: Der Mensch kommt naturgemäß schwer mit dem Umstand zurecht, dass er Zufallsprodukt einer Natur ist, die mit ihm nichts Besonderes bezweckt. Deshalb brauchen wir metaphysische, ideologische, religiöse Krücken, um vorwärts zu kommen. Deshalb die Lust, in einer Bestimmung aufzugehen, die Geschichte macht. Um irgendwann mit gleich großer Leidenschaft zu vergessen, dass wir dabei das Korsett mit dem Charakter verwechseln. Erst die Hand an der Hosennaht, dann am Abzug. Der liegt richtig - sagt man von dem, der vorher richtig umgefallen ist.

2009 hat Hilsenrath sein letztes Buch geschrieben. Dies Lebenswerk sagt uns: Nichts bleibt untiefer als die eigene Biografie, und Unschuld ist lediglich eine Leihgabe, meist für nur sehr kurze Zeit. Nun ist Edgar Hilsenrath im Alter von 92 Jahren in der Eifel gestorben. Auch sein Tod lässt Gedenken zu Fragen gerinnen: Wie werden, nach dem Abschied der Zeugen, nachfolgende Generationen auf Nazi-Geschichte reagieren? Wie kollidieren Bewahrung und Vergessen? Wird kühler Blick bewirken, dass die Interpretationen dessen, was geschah, fahrlässiger werden?

Dieser Schriftsteller stand in der Tradition von Brecht, Chaplin, Lubitsch, Begnini, Schlingensief, Levy - die Liste derer, die sich über den Faschismus lustig machten, um das Leben triumphieren zu lassen, ist lang. Hitler baute das Gefängnis unseres Geistes. Dass es Hilsenrath in Deutschland so ungerecht schwer hatte, gemahnt an eine deutsche Leistung, die möglich sein müsste: dass wir nicht locker lassen im Unbehagen beim Thema Hitler, aber dass wir im Leiden an dieser Unbehaglichkeit doch locker sind. Es ist ein natürlicher Instinkt des Komischen, dass es sich bevorzugt dort zu entzünden sucht, wo der Schrecken lauert, das blanke Entsetzen. Auch der ruppige Witz Hilsenraths treibt seinen Keil in die Erinnerungen; und meist kann man nur über das befreit lachen, was man mit Hilfe der Zeit weit hinter sich ließ, oder über das, was man noch nicht begreifen kann, weil man mittendrin ist. Im fordernden, peinigenden Zwischenraum leben die Bücher von Edgar Hilsenrath.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!