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Wer garantiert Schutz?
Streit in der Linkspartei um US-Truppenabzug aus Syrien
Allzu viele in der Linkspartei haben sich noch nicht mit einer Einschätzung aus dem Fenster gehängt, nachdem US-Präsident Donald Trump am 19. Dezember angekündigt hat, die Truppen der Vereinigten Staaten aus Syrien abzuziehen. Das mag einerseits daran liegen, dass die Mitteilung kurz vor Weihnachten kam. Allerdings werden auch wenige Konflikte in der Linkspartei so unterschiedlich bewertet wie der in dem Mittelmeeranrainerstaat im Nahen Osten. So wird beispielsweise heftig über die Zusammenarbeit der Kurden in Nordsyrien mit dem US-Militär gestritten, das in Syrien mit 2000 Soldaten vor Ort ist.
Auch die Präsenz der US-Truppen im Norden Syriens selbst wird von deutschen Linken unterschiedlich bewertet. Die einen verurteilen vor allem das völkerrechtswidrige Eingreifen der Vereinigten Staaten in den Konflikt und die Förderung zunehmend terroristisch agierender Oppositioneller durch den Westen mit dem Ziel, einen »Regime Change« herbeizuführen - also Präsident Baschar al-Assad zu entmachten und so den Einfluss Russlands im Nahen Osten weiter zurückzudrängen. Andere befürworten das strategische Bündnis, das die Kurden im Norden Syriens mit den USA eingegangen sind. Mit diesem Bündnisses wollen sie einerseits ihre Gebiete gegen Angriffe von Dschihadistenmilizen wie dem »Islamischen Staat« (IS) verteidigen und andererseits sich gewisser Weise vor weiteren Überfällen durch die mit Islamisten kooperierende türkische Armee schützen. Letztere in der Linken sehen die Bemühungen der Kurden um eine fortschrittliche Entwicklung hin zu einer sozialistischen, demokratischen Gesellschaft durch den Rückzug der US-Soldaten bedroht.
Der LINKE-Bundestagsabgeordnete Alexander S. Neu hat bereits einen Tag nach Trumps Ankündigung eine erste Einschätzung gewagt. Der Rückzug der US-Truppen sei »richtig und notwendig«, urteilte er in einer Pressemitteilung. Der von den Vereinigten Staaten angeführte »Anti-IS-Einsatz« auf syrischem Boden und im Luftraum des Landes sei auch nach Einschätzung der Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages völkerrechtswidrig. Wer den Abzug bedauere, übersehe, »dass das Chaos in der Nahostregion im wesentlichen von den USA und deren Verbündeten erzeugt worden ist«, die dort ihre eigenen politischen und ökonomischen Interessen verfolgten, erklärte der LINKE-Obmann im Verteidigungsausschuss des Parlaments. Zugleich räumte er ein, der Rückzug der USA stelle angesichts der Annexionspläne der Türkei ein hohes »Sicherheitsrisiko« für die Kurden im Norden des Landes dar. Es bestehe unter anderem die Gefahr »ethnischer Säuberungen«, wie bereits nach dem türkischen Einmarsch in der Region Afrin geschehen. Neu appellierte indirekt an Russland, dies zu verhindern. Die Bundesregierung müsse endlich zumindest die türkische Okkupation in dem Gebiet als völkerrechtswidrigen Akt verurteilen, die EU solle »schmerzhafte Sanktionen« gegen die Türkei verhängen, forderte der Politiker. Zugleich betonte er, eine »stabile und friedliche Zukunft Syriens« sei letztlich nur ohne »militärische Präsenz und politischem Druck durch Drittstaaten« möglich. Das gelte auch für die »Verbündeten der syrischen Regierung, Russland und Iran«.
Eine Gegenposition formulierte Neus Fraktionskollegin Helin Evrim Sommer in einer »nd«-Kolumne. Die kurdischstämmige Politikerin, die selbst als Neunjährige aus der Türkei flüchtete, sieht aktuell keine Alternative zur US-Präsenz in Nordsyrien. Multilaterale Missionen zum Schutz der Kurden seien zum Scheitern verurteilt, weil das Assad-Regime oder Russland ihre Zustimmung verweigern würden, argumentierte Sommer. Nach einem Abzug der US-Truppen würden die Kurden »entweder abgeschlachtet oder in die Arme des Diktators Assad getrieben«, fürchtet sie.
Allerdings haben die kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG in Nordsyrien nach der Ankündigung des US-Präsidenten umgehend an Assad appelliert, Regierungstruppen an die nordsyrische Grenze zu verlegen. Bereits am 24. Dezember waren türkische Einheiten mit Panzern und Granatwerfern nach Kilis an der Grenze zu Syrien verlegt worden. Kurz darauf rückten syrische Regierungseinheiten in Richtung der Stadt Manbidsch vor.
Die Positionen von Neu und Sommer stehen für seit Langem anhaltende Auseinandersetzungen über Interventionen des Westens auf der einen und Russlands auf der anderen Seite in Syrien, die es innerhalb der parteipolitischen wie auch der gesellschaftlichen Linken gibt. Die einen vertreten einen kürzlich in einem »taz«-Kommentar als »simpel gestrickt« und »zynisch« gegeißelten Antiimperialismus - und legen vor allem die materiellen und strategischen Interessen des Westens nicht nur im Syrien-Konflikt offen, verteidigen das Agieren von Russland dagegen teilweise als angeforderte und damit legitime Unterstützung für die Regierung in Damaskus. Die andere Seite hält die Unterstützung strategischer Bündnisse linker Kräfte im Nahen Osten mit den USA, der NATO und der EU für nötig und ist dafür durchaus bereit, Völkerrechtsbrüche hinzunehmen.
Martin Glasenapp, der für die Hilfsorganisation Medico International bis 2016 in Nordsyrien im Einsatz war und heute Büroleiter von LINKE-Chefin Katja Kipping in der Berliner Parteizentrale ist, hofft für die nächsten Wochen auf eine »verantwortungsvolle Debatte« zum Thema in Partei und Bundestagsfraktion. Er selbst sieht im geplanten US-Rückzug einen »Verrat« an den Kurden. Insgesamt hält er es aber für positiv, wenn die USA nicht mehr in Konflikte im Nahen Osten intervenierten. Die Frage sei, ob dies in Syrien Demokratie und Fortschritte bringe, solange Iran und Russland dort als »einzige imperiale Ordnungsmächte« verblieben, so Glasenapp am Freitag im Gespräch mit »nd«. Er glaubt, dass ein neuer Einmarsch der Türkei nicht in den nächsten Tagen bevorsteht. Gleichwohl erhöhe die Ankündigung des US-Truppenabzugs die Unsicherheit in der Region, die ohnehin zu einem seit 2015 anhaltenden Exodus insbesondere gebildeter und wohlhabenderer Bewohner in Richtung Europa geführt habe.
Innerhalb der Linkspartei bestehe »absolute Einigkeit« darüber, dass das Vorgehen der Türkei in Nordsyrien zu verurteilen sei und dass Druck auf die Bundesregierung ausgeübt werden müsse, dies endlich ebenfalls zu tun, meint Glasenapp. Zu diskutieren sei nun, wie ein Schutz der Kurden zu garantieren ist. Russland werde auch in Nordsyrien eine besondere Verantwortung zufallen, so Glasenapp, der zugleich daran erinnerte, dass Moskau der türkischen Luftwaffe Anfang 2018 ermöglicht habe, den syrischen Luftraum zur Eroberung der Region Afrin zu nutzen.
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