Mutti stand kampfbereit

Gregor Gysi traf - nur im Gespräch: Boxtrainer-Legende Ulli Wegner

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Nichts ist nur das, was es ist. Sag zu dem Boden, auf dem du gerade stehst: Erdreich - schon stehst du anders. Alles ist Folie für Fantasie. Jeder ist Gleichnis. Ein Glück: Jene Typen gehen nicht aus, deren Suchtverhalten das Beispiel gibt für gesteigertes Dasein. Das uns so fehlt. Das wir uns dauernd borgen müssen gegen den Blödsinn des Täglichen. Typen tun not, die uns lehren: Wahrheit geht nur einher mit körperlichen Erfahrungen. Gregor Gysi lud zu seiner Gesprächsreihe am Deutschen Theater Berlin eine Trainerlegende des Boxens ein: Ulli Wegner. Just dieser Sport erinnert daran, dass unser Empfinden ungezähmte Vorfahren hat - Boxen offenbart des Menschen Selbstgenuss an der Umwandlung eines Leidens in die Ästhetik des Gegenangriffs. Eine Antwort auf alle, die nur sich selbst an die Brust schlagen.

Im Hintergrund des Gesprächs der schwere Bühnenvorhang. Samtrot, das an diesem Sonntagvormittag ans Blutrot erinnerte - in Wegners Szene keine Schminke. Er boxte 175 mal selber: ASK Vorwärts Rostock, SC Turbine Erfurt, BSG Wismut Aue. Mehrfacher Bezirksmeister - der dann jahrelang den Berliner TSC trainierte, 1991 Bundestrainer wurde, mit seinen Schützlingen zahlreiche Medaillen errang, bei Olympia, Welt- und Europameisterschaften. Im Profi-Boxstall von Wilfried Sauerland führte er Sven Ottke, Markus Meyer, Arthur Abraham, Yoan Pablo Hernández, Cecilia Brækhus und Marco Huck zu Weltgröße.

Aus dem Off ein Sprechsong auf Wegner. Eine Geburtstagshymne. Prost Pathos! Tanz der glatten Reime auf noch glatterem Schmalz. Aber es erzählt sich eine ganze Branche: die Salbe Heldentum, über geschwollene Gesichter geschmiert; der Eisbeutel Härte, auf blaue Augen gedrückt - zähl deine Deformationen, und du weißt, wie dein Kurs steht. Aber im Kitschpoem auch das Reellste, was man über Boxen sagen kann: Es sei »Größe ohne Schein«.

Wegner, 1942 in Stettin geboren, erzählt seine Kindheit. Das Schlimmste an der Flucht aus der kriegsbrennenden Stadt: Der Dreijährige konnte sein Dreirad nicht mitnehmen - Geschichte, das sind die elementaren Bedürfnisse, nicht die Interpretationen der nachgeordneten Bewusstseinsindustrien. Als Wegner sagt, sein Vater habe zwei Weltkriege erlebt, da dachte ich an diese eigentliche deutsche Tragödie: Was ein Mensch des heute höheren Alters - durch mehrere Ordnungen hindurch - alles lernen und dann vergessen und dann neu lernen und neu vergessen musste. Ulli Wegner war kein guter Schüler (»leider«), der Vater, ein Arbeiter, peinigte ihn mit Erziehung, »ich fand ihn roh und übertrieben«. Er redet viel vom Vater, aber sagt noch öfter »Mutti« - sie stand stets »kampfbereit hinter dem Vater«, um den Jungen zu schützen. Der ist schon als Sechsjähriger Kuhhütejunge, bindet das Tier auf dem Marktplatz selbstvergessen an einen Mast, denn er spielt lieber Fußball. »Ich konnte ein Spiel lesen.«

Ein Spiel lesen können. Beim Boxtraining heißt das für ihn: »rein in die Seele kommen«. Monate lang hat er einem seiner Boxer eingeredet, er sei ein Feigling. »Ich wusste, dass ihn das wild macht.« Es machte ihn zum Weltmeister. Was ihn selber zum Boxer erkor? War es Mut?, fragt Gysi. In diesem Gespräch geht es um Fäuste, diese gepolsterten Hämmer, nicht um Faust, aber Wegner antwortet mit Goethe: Mutig sei, wer die Gefahr nicht erkennt. So fing es an. So fängt vieles an: keine Angst haben, wo sie nötig wäre.

Wegner verehrt John Wayne. Er ist der Eiserne, der aber das sentimental Romantische liebt. »Ich war nie ein Diplomat, aber in den Seelen, in die ich reinkam, habe ich mich nie danebenbenommen.« Die Grundfrage allen Zusammenseins: Wie benehmen wir uns - in unserer eigenen und in der Seele anderer? Du siehst diesen Mann auf der Bühne und denkst daran, dass Literatur und Film immer wieder in den Boxring stiegen, um den geschundenen Außenseiter zu zeigen. Scorseses »Wie ein wilder Stier«, Wondratscheks Texte, der Film über Muhammad Ali, »When We Were Kings«, und Robsons »Schmutziger Lorbeer«, den Godard in seinem Kino-Geniestreich »Außer Atem« zitieren wird - die Selbstüberwindung des Menschen, dargeboten von Stellvertretern, denen neben der gefahrvollen Aussicht auf Schaden auch ein wenig Unsterblichkeit winkt.

Gysi hört Wegner zu, er freut sich der Exotik, er spricht von der »erotischsten männlichen Stimme«. Dies Kratzen, dies ruppige Röcheln. Was Wegner denkt und sagt, ist der stoßende Atem des Instinkts, der Fetzen der bauchigen Eingebung, die gehärtete Glut des Gutkerls - der im Kapitalismus nicht überwinterte, sondern sich Frühlinge schuf. Ganz im Sinne von Hemingway oder Jack London, die ihre Stoffe in den krassen Schattenseiten des Sports fanden: in der großartigen Einsamkeit der Niederlage, in der Entfesselung aller schweißtreibenden, volksgebärdigen Triebe. Auch Brecht: »Ich bin für den Sport, weil er riskant (ungesund), unkultiviert (nicht gesellschaftsfähig) und Selbstzweck ist.« Lob des Zwielichts, Lob des Rotlichts, Lob des Zockens, Lob des Zigarrenrauchs mitten im Japsen der Athleten. Wegner live.

Er erzählt von Initiativen in Marzahn, bei Flüchtlingen per Boxtraining Aggression abzubauen. Spricht von der Schande der DDR, »die Menschen einfach einzusperren«, redet aber auch von der erlebten Vielfalt im Osten. Skizziert die mythischen Gestalten, und sie erstehen vorm geistigen Auge. Mike Tyson: Steinzeit des Boxens, bevor die Künstler kamen. Cassius Clay (»er war nicht gebildet, aber intelligent«): der Tanz, die Artistik, die Vielzahl der Schläge. Dagegen die Klitschkos: ein einziger Schlag entscheidet (»und beide kommen aus der Gesellschaft, die dem Amerikanismus angenehm entgegengesetzt ist«). Henry Maske: »Ganz groß - und bodenständig.« Das Herz eines Boxers zeige sich erst, wenn man an den Rand der Verdammnis gerät - wie bei Maskes erstem Kampf gegen Rocchigiani. Die neunte Runde: das Waterloo abgewendet.

Du hörst diesem Mann zu und fühlst, wie in deinem Kopf das Prinzip des Boxens auf andere Sportarten übergreift - unter Wegners Training würde wohl auch gutes Tennis nur dann entstehen, wenn der Ball nicht die Grundlinie, sondern den Solarplexus des Gegners trifft. Jetzt erzählt er von Arthur Abraham: 2006, die »Blutschlacht von Wetzlar«. Wegners Schützling erleidet einen doppelten Kieferbruch, der Arzt verzweifelt, der Trainer fragt nur: »Bist du ein Indianer oder nicht?«, nach zwölf Runden ist Abraham Weltmeister. Und Wegner unter Sperrfeuer. »Aber ich habe einen Millionär gemacht.«

Ulli Wegner: der Mann, der auch seine glückliche Ehe als Boxkampf bezeichnet. Der ein gelernter Maschinenschlosser ist, aber seiner Frau die praktischen Arbeiten überlässt, »deshalb habe ich ihr jüngst eine Schlagbohrmaschine geschenkt.« Der Mann, der an diesem Vormittag mehrmals davon spricht, der Mensch müsse »über die Runden kommen«. Wie jeder Boxer. Der uns somit sagt: Es gibt nicht nur zwei radikale Räume auf der Erde, also nicht nur die Höhle und die Wüste, sondern auch einen dritten radikalen Ort: den Boxring. Wo mit gepolsterten Hämmern der Unterschied ermittelt wird zwischen Stehen und Liegen. Wie im Leben - nur dass dort oft die Polsterung fehlt. Ganz ungeschützt und also verunsichert steht Wegner jetzt im Applaus. Als schlügen wir ihn, und er wehrte sich nicht. Groß, berührend.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -