Du musst dich nicht schämen

Die Gelben Westen und die Klassengewalt in wohlgesetzten Worten.

  • Mesut Bayraktar
  • Lesedauer: 7 Min.

Die gelben Westen, getragen von leidenden Körpern, signalisieren: Wir sind Geschlagene, Betrogene. Die Bürgerlichen in Frankreich reagieren mit einer Sprache gouvernementaler Härte. Sie ist metallisch, eine Sprache zivilisierter Unterdrücker. Davon hat Édouard Louis im Dezember berichtet.

Die Sprache der Bürgerlichen in Deutschland über die Gelbwesten unterscheidet sich wenig. Hinzu kommt aber die Belehrung des Konkurrenten. Denn sie meinen, ihre populären Klassen fest im Schraubstock der Macht zu haben. Den unteren Klassen geben sie vor, dass die Gelbwesten Psychopathen sind, wie die beim G20-Protest in Hamburg, die sie verprügelt haben, während sie die globale Ausbeutung organisierten.

Dabei machen die Bürgerlichen über die EU Druck. Günther Oettinger, EU-Kommissar, drohte mit einem Disziplinarverfahren, weil die französische Regierung die Bewegung mit »Weihnachtsgeschenken« abzuspeisen versuche. Dadurch werde sich Frankreich nicht an die Neuverschuldungsgrenze von 2,8 Prozent für 2019 halten können. Er spricht von »Weihnachtsgeschenken«, als wären die Rentner, Schüler, Studenten, Arbeiter und Kleinbürger auf den Straßen Tiere im Zoogehege, die man füttert. Wollen diese Menschen denn nur größere Geschenke? Sind ihr Leben, ihr Hunger, ihr Leiden und ihre Blockaden nichts? In solchen Ausdrücken verbirgt sich die Verachtung der Bürgerlichen gegen die Beherrschten.

Sie sind Töne der Drehorgelmusik des Wertgesetzes, dessen materielle Gewalt das Bürgertum ist. Aus ihnen tönt das Echo extremer Staatsgewalt, die leidende Körper kaputtschlägt, sobald der Verwertungsprozess angetastet wird. Es ist eine Sprache der Sieger, die die Besiegten parodiert.

Der Klassenhass des Bürgertums drückt sich in ökonomischen Sachzwängen aus. Es sind dies Zwänge, die von ihnen eingerichtet und institutionell abgesichert sind, nahezu unsichtbar. Oettingers Aussprache dieser Zwänge ist nur ein Beispiel von vielen, die ich und meinesgleichen in der Folter des Alltags zu ertragen haben, wo ich oft an Hauptbahnhöfen, Parks und Straßen die Begegnungslosigkeit der Einsamen beobachte.

Die deutschen Intellektuellen sprechen ungern von Wirtschaft, sondern lieber von Moral. Sie können die Aktionen der Gelbwesten nachvollziehen, sagen sie, einige zumindest. Im selben Atemzug verurteilen sie deren Gewalt. Dabei sind sie blind für die Tatsache, dass die Gewalt der Gelbwesten eine Notwehr der Geschlagenen gegen die Klassengewalt der Bürgerlichen ist.

Ist nicht Sozialhilfe gewaltsamer als das Anzünden eines Autos, unbezahlbarer Wohnraum oder Zwangsräumung aggressiver als die Blockade einer Straße? Arbeitslosigkeit trotz Studienabschluss viel mehr ein Gewaltakt als das Standhalten im Angesicht eines Polizeiknüppels - und Drei-Schicht-Arbeit im Kriegslärm der Maschinen im Vergleich zum Werfen von Pflastersteinen? Was ist die Besetzung einer Schule gegen die schleichende, stille Gewalt der Ausgrenzung im Bildungswesen? Wenn die 500 reichsten Personen in Frankreich seit 2008 ihr Vermögen verdreifacht haben und gemeinsam 650 Milliarden Euro besitzen, während 21,5 Prozent der Jungen ihr Brot nicht verdienen können, wenn Millionen schon die Miete über den Kopf wächst und ihnen die Hochkultur die Türen vor der Nase zuschlägt - wer ist dann der extreme Gewalttäter?

In der Gewalt zu leben geht dem Affekt voraus, der sich gewaltsam entlädt, wenn er keinen Abzugskanal mehr an Orten finden kann, die das falsche Glück verkaufen. Er richtet sich gegen den Schläger. Er ist ein Aufstand des leidenden Körpers gegen seine Beschlagnahme. Seine Geste verrät: Ich verabscheue Gewalt, aber was soll ich tun, wenn ihre Mikrophysik mich beherrscht.

Im Nachbarland findet eine Revolte der Vergessenen gegen das Klassensystem statt. Hier debattieren Intellektuelle über Plastikstrohhalme oder Bestseller, in denen die populären Klassen ausgelöscht sind, nicht existieren. Dann kommt ein Appell, demokratisch gewählte Vertreter müssten die Politik bestimmen. Man müsse sich an das Gesetz halten, nichts könne Gewalt rechtfertigen.

Das sollten sie den Mädchen und Jungs aus meinem Viertel sagen, die vier Jahre in lauten und schlecht beheizbaren Containern unterrichtet wurden, weil ein Bauunternehmen streckenweise die Sanierung des Schulgebäudes stoppte: Die Stadt konnte nicht zahlen. Diese Mädchen und Jungs arbeiten jetzt in Fabriken, im Einzelhandel, in der Pflege oder Leiharbeit, wenn sie nicht arbeitslos sind. Der Gewalt der Armut konnten sie nicht entkommen. Vielleicht sind sie schon Mütter und Väter. In Frankreich hätten sie gelbe Westen an.

Wo ist das Sprechen der Intellektuellen, wenn das Gesetz den Mord an Oury Jalloh 14 Jahre lang verschleppt und vertuscht - Oury Jalloh, der, neben vielen anderen, unser Adama Traoré ist? Wo ist ihr Wort, wenn der Innenminister aus der Bottroper »Amokfahrt« gegen Ausländer keine Konsequenzen ziehen will, aber eine Schlägerei von alkoholisierten Männern für schärfere Abschiebegesetze instrumentalisiert, weil diese schwarze Haare haben und nicht Müller oder Meier heißen?

Wo war ihr Solidaritätsgruß an die Aktivisten am Hambacher Forst, die seit Jahren den Wald gegen die RWE-Bagger schützen? man barbarisierte sie wegen Kotwürfen und hielt ihnen gelegentliche Sonntagsspaziergänger als Vorbild vor, die Fahnen der grünen Partei schwangen, nachdem der Kampf vorüber war.

Sie sagen nichts. Sie schweigen, machen sich stark, wenn sie die Meinungsfreiheit gefährdet sehen, oder zeigen Entsetzen im Fall Magnitz. Wo aber macht ihr euch stark, wenn untere Klassen nicht zur Sprache kommen, obwohl sie eine Meinung haben? Ihr seid Heuchler. Eure Demokratie gründet auf der Ohnmacht der Sprachlosen. Diese Art von Erhabenheit und auswählenden Verurteilens erinnert mich an das, was Hegel »die wirklichkeitslose schöne Seele« nennt. Sie »zerfließt in sehnsüchtiger Schwindsucht« und ist »ein reines Sein oder das leere Nichts«, da sie sich die Unschuld eben damit bewahren möchte, sich aus den Kämpfen der Welt herauszuhalten.

In einem Vortrag hat ein Philosophieprofessor die Gelbwesten als »Pöbel« bezeichnet. Seine Kollegen haben genickt, auch Studenten. Dann hat er den Paragrafen 244 aus Hegels Rechtsphilosophie zitiert. So verwandelt sich eine plumpe Behauptung zu einem wissenschaftlichen Axiom.

Wenn, so Hegel, eine große Masse »unter das Maß einer gewissen Subsistenzweise« herabsinkt, verliert sie »das Gefühl des Rechts, der Rechtlichkeit und der Ehre, durch eigene Tätigkeit und Arbeit zu bestehen«. Sie rebelliert. Sie wird »Pöbel«. Dann fügte der Professor weitere Fassungen hinzu. Eine besagt, dass bei starkem Wohlstandsgefälle die Reichsten ebenfalls ihr Rechtsgefühl verlieren. Sie handeln gesetzlos. Daraus folgert Hegel die »Pöbelhaftigkeit« der Reichen. Zur gesetzestreuen Mitte und zum mittelmäßigen Gesetz sagt der Professor nichts. Er, der Professor, sieht seinem »linken« Ethos Genüge getan: hat er doch, nachdem er gegen die Unteren austeilte, auch wider die Oberen gelöckt. Ich aber spüre in diesem Augenblick den Puls in meinem Hals. Mein Bauch zieht sich zusammen. Ich verspüre Wut.

Vielleicht fühle ich mich angesprochen oder beleidigt. Nicht wegen Hegel, sondern weil ein Professor mich »Pöbel« nennt. Diese Wut, vermischt mit Scham, blockiert meine Zunge. Ich kann nicht widersprechen, ich muss aber. Als repräsentierte ich eine große Gruppe, eine Klasse, obwohl mich niemand zum Repräsentanten gewählt hat. Ich habe gespürt: Die Klasse gibt es nicht, du bist die Klasse, jeder Einzelne, den die Gravitation der Klassengewalt nach unten drückt.

Ich muss noch am Abend an diesen Vorfall denken. Dann fällt mir auf: Hegel argumentiert vom Verlust des Rechtsgefühls her. Er verschweigt aber, dass das Gesetz Pöbel und Pöbelhaftigkeit erzeugt. Was, wenn das Gesetz selbst pöbelhaft ist?

Mit diesem Gedanken fühle ich mich auf Augenhöhe mit dem Professor. Ich habe ein Argument innerhalb seiner Logik gefunden. Ihm eine andere Logik entgegenzusetzen, würde ja nicht toleriert. Es wäre unwissenschaftlich, das würde man sagen. Dieser Trost hält aber nicht lang. Der Schaum der Wut überflutet ihn: Warum fiel es dir nicht ein, als der Professor sprach? Du, deinesgleichen, deine Klasse wurde in diesem Augenblick besiegt, mal wieder.

Die Gelbwesten, so verurteilenswert rassistische und homophobe Rufe bleiben, machen eins für mich deutlich: Du musst dich nicht schämen, sprich im Zweifelsfall nach deiner Logik, wenn du dich nicht mehr auf die der Bürgerlichen einlassen kannst. Deine Scham ist ihre Gewalt in deinem Körper. Du musst dein Denken in die Welt werfen. Sei ein Echo deiner Klasse.

So befreist du deinen Körper von der Gewalt.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.