Zwischen Ekel und Revolte

Vom latent schwelenden Bürgerkrieg: Michel Houellebecqs Roman »Serotonin«

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Wenn man anerkennt, dass Schreiben Arbeit ist (und das sollte man), dann ist Michel Houellebecq gewiss ein Schwerarbeiter. Aber wie das so ist, man schließt aus dem Inhalt seiner pünktlich Jahr für Jahr erscheinenden Bücher auf den Autor selbst. Soll man das nicht? Er ist weder ein Zyniker (jedenfalls nicht mehr als jeder Romantiker mit einem Wirklichkeitsvorbehalt) noch ein - so der besonders perfide Vorwurf - rechtspopulistischer Renegat. Obwohl die Welt voller Renegaten ist, die ihre Überzeugungen wie Hemden wechseln. Aber auch das stimmt nicht, Houellebecq war nie Ideologe, hatte vermutlich immer schon nur sehr vorläufige Weltanschauungen, und manch gesinnungsfesten Zeitgenossen ärgert so was.

Wer schreibt, der entbirgt und verbirgt gleichermaßen, was ihn am meisten beschäftigt: seine Angst vor Krankheit, Alter und Tod ebenso wie vor dem Leben und anderen Menschen. Ein Paradox gewiss, aber aus diesem Stoff ist der Mensch bekanntlich gemacht. Zumindest jener Typus, um den Houellebecq beständig kreist: den in geistlosen Zuständen gefangengesetzten Intellektuellen. Er sieht sich selbst als jemand, der eine Flaschenpost ins Meer der Zeit wirft. Auf Antwort hat er längst zu warten aufgehört. So monologisiert er gegen die allgegenwärtige Einsamkeit an, das Gefühl der Sinnlosigkeit, das jeden Handlungsimpuls sofort sabotiert. Dieses höchst unglückliche Bewusstsein, ist keineswegs neu: schwarze Galle! Gottfried Benn schrieb in seinem berühmten Melancholie-Gedicht: »Was ist der Mensch - die Nacht vielleicht geschlafen /, doch vom Rasieren wieder schon so müd /, noch eh ihn Post und Telefone trafen, / ist die Substanz schon leer und ausgeglüht.« Was daraus folgt, notiert er auch: »Schon eine Pille nimmt dich auf den Arm / und macht das Trübe hell, das Kalte warm.« Es gibt also Fluchtmöglichkeiten. Nicht nur die finale, mit dem Messer beim Rasieren zu verunglücken, sondern jene künstlichen Paradiese, die die Pharmazie verheißt. Um diese geht es auch in Houellebecqs neuem Roman »Serotonin« - das ist der Name für jenes Glückshormon, dem wir hinterherjagen wie Junkies. Aber es ist ein trügerisches Ding mit den Glücksgefühlen. Sie betrügen uns (um den Erkenntnisschmerz), und auch wir betrügen sie mit Surrogaten aus der Apotheke.

Das wird zum Ausgangspunkt einer Reise ohne glückliche Ankunft. Der Ich-Erzähler Florent-Claude Labrouste arbeitet in diesem Rückblick (!) auf die Ära Macron als Berater für das Landschaftsministerium. Als Berater verdient man viel Geld, selbst dann, wenn man selbst eher ratlos ist. Aber der Gestus des Experten zählt - so war es bislang jedenfalls, aber plötzlich ändert sich alles. Es ist jener Moment, da der Ekel übermächtig wird, über den bereits Jean-Paul Sartre ein Buch schrieb, das anhebt: »Irgend etwas ist mit mir geschehen, ich kann nicht mehr daran zweifeln. Es ist wie eine Krankheit gekommen, nicht wie eine normale Gewissheit, nicht wie etwas Offensichtliches. Heimtückisch, ganz allmählich hat sich das eingestellt; ich habe mich ein bisschen merkwürdig, ein bisschen unbehaglich gefühlt, das war alles.« Aber dann ist es eben doch nicht alles.

Das hier wächst sich aus, zu mehr als einer Depression, jenem dunklen Abgrund, der den Einzelnen zu verschlingen droht - es betrifft alles, die französische Gesellschaft, die Welt. Für diesen Endzustand, die völlige Hoffnungs- und Sinnlosigkeit gibt es ein Wort: Nihilismus. Sartre hat sich aus der Lähmung schreibend schließlich wieder herausgearbeitet - und Houllebecq? Er arbeitet noch gegen den Sog an, schreibt auf, mit welchen Ungeheuern Goyas dieser Schlaf der Vernunft zu kämpfen hat.

Sein Ich-Erzähler, weder jung noch alt, Mitte vierzig, ist unstrittig schwer depressiv. Aber den künstlichen Glücksgefühlen gegenüber bleibt er misstrauisch. Darum raucht er morgens erst zwei, drei Zigaretten, bevor er eine Tablette Captorix nimmt: »Nikotin ist eine perfekte Droge, eine simple und harte Droge, die keinerlei Freude auslöst, die ganz vom Mangel und dem Abstellen des Mangels bestimmt ist.« Das Anti-Depressivum dagegen, so weiß er, wirkt tückisch: Es simuliert eine nicht vorhandene Teilnahme am Leben, kaschiert die Asozialität des rettungslosen Außenseiters. Bei all dem tötet es jeden Rest von Lustempfinden, nicht nur den sexuellen.

So der Ausgangspunkt, der doch nichts anderes als ein Endpunkt ist. Sein eigenes Ende und das jenes parlamentarisch-demokratischen Europas, das sich gern für den Höhepunktpunkt der Geschichte hält, bewegen sich - unheilvoll ineinander verschlungen - aufeinander zu. Die neoliberalen Dämonen unterminieren so lange schon die Fundamente des europäischen Hauses, das einmal eine Utopie war. Und so geht es in diesem Anti-Unterwerfungsroman, wie es der Autor selbst formuliert, weiter. Es ist die Geschichte einer Revolte. Sie beginnt damit, dass Labrouste seine Identität vernichtet - er kündigt Wohnung und Beratervertrag, leitet Gelder um, taucht anonym ab. Es ist gar nicht so schwer, im bürgerlichen Sinne nicht mehr vorzukommen. Ein neues Freiheitsgefühl überrollt ihn - aber es ist jenes Wissen, sich entscheiden zu müssen, ob und wie er weiterleben will. Er trifft einen alten Studienfreund, der einen alternativen Bauernhof betreibt. Einst war dieser ein Idealist der biologischen Landwirtschaft. Nun erblickt er ein Wrack, das an nichts mehr glaubt, angesichts der fortschreitenden Vernichtung von ländlichen Existenzen. Die französischen Bauern haben längst nichts mehr zu verlieren, sie bewaffnen sich, sind bereit für den Aufstand. Eine bedrückende Szenerie. Wie nennt man Revolution ohne Hoffnung? Dieser Autor glaubt nicht an Tradition, Nation oder staatliche Autorität. Auch nicht an eine rettende Theorie. Er ist ein Anarchist - aber einer wider Willen.

Wir werden Zeugen des Zu-Tage-Tretens eines latent schwelenden Bürgerkrieges, den Houellebecq bereits in »Unterwerfung« diagnostiziert hatte. Hier setzt er an, überaus pointiert erzählt, nicht ohne bösen Witz angesichts der Schrecken im Kleinen und Großen. Aber eigentlich, so hat man das Gefühl, ist dieser hochpessimistische Autor vor allem traurig darüber, dass ihn die Verhältnisse nicht eines Besseren belehren. Unsere Art, uns notorisch selbst zu manipulieren, hat sich längst verselbstständigt. Auch unsere Träume sind nicht mehr unsere Träume, von den Realitäten ganz zu schweigen.

Also keinerlei Zuflucht für den von Effizienz- und Beschleunigungsdämonen getriebenen Einzelnen mehr? In »Serotonin« nicht, da gibt es nur vorläufige Ruhigstellung. Doch im vergangenen Jahr, da hat Michel Houellebecq ein wundersames Buch namens »Interventionen« veröffentlicht. Darin geht es um die Welt der Bücher, bereit die vom hypermodernen Alltag lädierten Einzelnen aufzunehmen wie eh und je. Wo Geist ist, ist Exil - so der Befund. Auch wenn die Literatur selbst eine »faszinierende Krankheit« sei, wird dies zur Liebeserklärung an die Magie der Worte: »Ich weiß, dass ich bis an das Ende meines Lebens lesen werde - vielleicht werde ich aufhören zu rauchen, selbstverständlich werde ich aufhören, Sex zu haben, und das Gespräch mit anderen Menschen wird mehr und mehr an Interesse für mich verlieren.«

Michel Houellebecq: Serotonin. DuMont, 330 S., 24 €

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