Schnee von gestern in Wiesbaden

Oberbürgermeister Sven Gerich wirft vier Monate vor der Wahl das Handtuch

  • Hans-Gerd Öfinger
  • Lesedauer: 4 Min.

Als die SPD im April 2018 im neuen Wiesbadener RheinMain CongressCenter (RMCC) die GroKo feierte und Andrea Nahles zur Chefin wählte, trat zum Auftakt des Parteitags mit Sven Gerich ein strahlender Wiesbadener SPD-Oberbürgermeister auf und erklärte den Genossen, wie er und seine lokale Partei innerhalb eines Jahrzehnts aus dem Tal der Tränen zu neuen Höhen aufgestiegen seien.

Gerich hatte 2013 als junger Herausforderer in der Direktwahl überraschend CDU-Amtsinhaber Helmut Müller verdrängt und galt bis vor kurzem als Favorit für die zeitgleich mit der Europawahl im Mai anberaumte OB-Direktwahl in der hessischen Landeshauptstadt. Selbst die CDU traute Gerich offenbar die Wiederwahl zu und nominierte mit dem biederen Dachdeckermeister Eberhard Seidensticker einen farblosen Bewerber, der in Debatten im Rathaus nie aufgefallen war.

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Doch das ist jetzt im winterlichen Wiesbaden Schnee von gestern. Vor einigen Tagen erklärte Gerich nur Stunden vor der geplanten Kürung durch eine SPD-Konferenz seinen Verzicht auf eine erneute Kandidatur. Er sei Opfer einer »Schmutzkampagne« und einer »Schlammschlacht« geworden und habe sich zum Schutze seiner Familie und Mitarbeiter und auch seiner selbst entschieden, nicht mehr anzutreten, so der 44-Jährige vor Journalisten im Rathaus.

Dem OB, der bislang an der Spitze einer Kooperation von CDU, SPD und Grünen die Landeshauptstadt führt und repräsentiert, wurden letztlich falsche Freunde und private Luxusreisen auf Einladung von Geschäftsleuten im Beisein der Lebenspartner zum Verhängnis. Erste staatsanwaltschaftliche Ermittlungen wegen Anfangsverdachts auf Vorteilsnahme laufen. Gerich war mit dem Großgastronomen Roland Kuffler nach Saint Tropez und zum Münchener Oktoberfest gereist. Kufflers Firma betreibt im Auftrag der Stadt die lukrative Bewirtung im Kurhaus und im RMCC. Mit dem CDU-Kreisschatzmeister Ralph Schüler, Inhaber einer Immobilienfirma, hatte der SPD-Mann 2014 einen sechstägigen Abstecher nach Andalusien unternommen.

Schüler war damals auf CDU-Vorschlag Geschäftsführer städtischer Immobiliengesellschaften geworden und soll nach Aussagen einer Ex-Mitarbeiterin diese Position auch zum Wohle seiner Firma genutzt und »nebenbei« viele private Geschäfte getätigt haben. Ins Rampenlicht geriet auch der Rechtsanwalt und lokale CDU-Fraktionschef Bernhard Lorenz. An ihm haftet der Vorwurf, ohne nachvollziehbare Gegenleistung von Schülers Firma mindestens 90 000 Euro bezogen zu haben. Lorenz ist in 17 städtischen Aufsichtsräten vertreten und soll in dieser Aufgabe eigentlich auch städtische Manager wie Schüler kontrollieren.

Als der öffentliche Druck immer stärker wurde, beschloss der Magistrat, die Wiesbadener Stadtregierung, im Dezember die Freistellung Schülers von seinen Aufgaben als städtischer Geschäftsführer. Dem Vernehmen nach stimmte der grüne Verkehrsdezernent Andreas Kowol dagegen, auch Grünen-Fraktionschefin und OB-Kandidatin Christiane Hinninger hielt bis zuletzt zu Schüler. Der geschasste Manager sann auf Rache, erstattete Selbstanzeige wegen Vorteilsnahme bzw. Bestechlichkeit und behauptete, in Andalusien auch für die Kosten der Gerichs aufgekommen zu sein. Der OB bestreitet dies und beteuert, »niemals korrumpierbar oder bestechlich« gewesen zu sein, auch wenn die Reisen »ein Fehler« gewesen seien. Was immer stimmen mag - Gerichs Kandidatur wäre von den Ermittlungen und Schülers Anwürfen überschattet worden.

Insider halten die bisher bekannten Details für die Spitze des Eisbergs und mutmaßen, dass noch mehr Akteure bei Immobiliengeschäften zulasten der Stadt mitgewirkt haben könnten. »Dass wichtige kommunale Aufgaben etwa im Bauwesen in privatwirtschaftlich organisierte Unternehmen verlagert wurden, hat all dies begünstigt und die demokratische Kontrolle und Transparenz erschwert«, so die Stadtverordnete Brigitte Forßbohm (LINKE).

Lorenz, der früher gut mit dem damaligen SPD-Fraktionschef Gerich konnte, hielt sich tagelang im Hintergrund und Windschatten des Medienwirbels um den angeschlagenen OB. Offenbar hoffte er, die Affäre aussitzen zu können und als »lachender Dritter« mit einem blauen Auge davon zu kommen. Er ließ den CDU-Fraktionsvorsitz und einen Teil seiner Aufsichtsratsmandate zunächst ruhen. Am Montagabend erklärte er schließlich seinen Rücktritt vom Fraktionsvorsitz. Ob er in den Aufsichtsräten bleibt, ist unklar.

Derweil sucht die Wiesbadener SPD hektisch nach einem neuen OB-Kandidaten. Die LINKE, die 2013 keinen OB-Bewerber aufgestellt hatte, schickt jetzt mit dem jungen Stadtverordneten Ingo von Seemen einen eigenen Kandidaten ins Rennen.

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