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Was zur Feier Weimars nicht passt
1919 forderte die Nationalversammlung die deutschen Kolonialgebiete zurück.
Der Weimarer Nationalversammlung wird angesichts ihres 100. Jahrestags als »großer Stunde unserer Geschichte« (Frank-Walter Steinmeier) gedacht. Die von ihr verabschiedete Verfassung gilt als eine Art Geburtsurkunde der Demokratie in Deutschland. Zweifellos übertraf sie die vorher geltenden Verfassungen und schnitt auch im internationalen Vergleich - selbst gegenüber Ländern mit längeren demokratischen Traditionen - gut ab. Doch dass die Verfassung den Untergang der Republik 14 Jahre später nicht aufhalten konnte, lässt sich nicht allein mit inneren Defiziten und Widersprüchen zwischen Verfassungstheorie und Verfassungswirklichkeit erklären.
Denn keineswegs hatten die Ereignisse von 1919 das »alte Kaiserreich endgültig hinfort« gespült, wie Steinmeier meint. Stattdessen herrschte bei den Weimarer Regierungsparteien von Anfang an das untergründige Gefühl, dort weitermachen zu können, wo das Kaiserreich 1914 aufgehört hatte - womit sie den Nährboden für den Revanchismus der Nationalsozialisten legten. Das zeigt ein kritischer Blick auf jene Erklärungen der verfassungsgebenden Versammlung, an die in diesen Tagen eher nicht erinnert wird: Die Forderung nach der »Wiedereinsetzung Deutschlands in seine kolonialen Rechte«.
Verloren hatte das Deutsche Kaiserreich seine Kolonien im Verlaufe des Ersten Weltkriegs. Die militärischen Verluste waren begleitet von Propaganda der Alliierten, in der sie das Deutsche Reich als der »Zivilisierung« unfähige Kolonialmacht darstellten. Ohne damit die Kolonialisierung generell infrage zu stellen, sollte damit die Übernahme der deutschen Kolonialgebiete gerechtfertigt werden.
Nachdem nun die revolutionäre Rätephase durch die Wahl einer Nationalversammlung im Januar 1919 beendet worden war, nahm man die Hoffnung auf eine Rückgewinnung der Kolonien wieder auf. Dabei bezog man sich auf den 14-Punkte-Plan des US-amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, der im Rahmen seiner Friedens- - oder besser Kriegszielforderungen - durchaus am Prinzip einer Kolonialpolitik für alle Kriegsbeteiligten festhielt. Selbstbestimmungsrecht und Unabhängigkeit wurden dabei nur den Territorien der Kriegsgegner in Europa und dem inzwischen bolschewistischen Russland zuerkannt. Ansonsten zielte Wilson auf einen »berechtigten« Ausgleich aller kolonialen Ansprüche.
In der Erwartung, den Zugang zu den deutschen Kolonien zurückzuerhalten, ließ die im Februar 1919 unter SPD-Reichskanzler Philipp Scheidemann gebildete Regierung den späteren Unterzeichner des Versailler Vertrags Johannes Bell (katholische Zentrumspartei) zum Kolonialminister ernennen. Umso kälter wirkte am Ende des Monats die Dusche, als die Siegermächte im Zuge der Vorbereitungen des Friedensvertrags erklärten, Deutschland habe durch seine brutale Vorgehensweise in den Kolonien das Recht auf deren Weiterbesitz verspielt. Angesichts des Festhaltens der Siegerstaaten an ihren Kolonien wirkte das nur als doppelzüngig.
Doch der Nerv des deutschen Selbstverständnisses war damit getroffen. Am 1. März wurde der Nationalversammlung eine Protesterklärung vorgelegt, die von einem breiten politischen Bündnis unterzeichnet war: Von Vertretern der nun als Deutschnationale firmierenden Konservativen, der Katholiken und der beiden liberalen Parteien bis hin zu drei Sozialdemokraten, darunter der auch heute noch zu den Säulen der SPD-Tradition gerechnete Paul Löbe und der spätere Reichskanzler Hermann Müller. Angeheizt wurde die Stimmung im Raum durch die auf den Zuschauerbänken sitzenden sogenannten Ostafrikaner, wie man die bei Kriegsende nach Deutschland repatriierten Offiziere und Soldaten der ehemaligen Kolonialtruppen aus »Deutsch-Ostafrika« (heute Tansania) unter ihrem berüchtigten Kommandeur Paul von Lettow-Vorbeck nannte. Als »unbesiegte Helden« wurden sie vom Reichskolonialminister begrüßt, ein Bild von kolonialer Glorie, das jüngst in der FAZ wieder aufgegriffen wurde.
Die sich anschließenden Ausführungen Bells waren ein einziger Vortrag von Kränkungen, die das Deutsche Reich - oder sollte man besser sagen: die deutsche Seele - durch die Vorwürfe der Alliierten erfahren habe. Dem Deutschen Reich seine Kolonien abzusprechen stünde weder mit den Taten der Alliierten noch mit deren Versprechungen im Einklang. Vielmehr sei der deutsche Kolonialanspruch wie der aller anderen »zivilisierten« Länder legitim, seine Wiederherstellung eine Frage der »Gerechtigkeit« - so Bell.
Eine Debatte anlässlich des vorgeführten Kolonialrevisionismus blieb aus. Keiner der 15 Unterzeichner ergriff das Wort - einzig Alfred Henke, ein Vertreter der USPD, legte Widerspruch ein. Dabei berief er sich auf die Traditionen der internationalen Arbeiterbewegung und auf die von den Kongressen der Zweiten Internationale und der SPD gefassten Beschlüsse. Diese hatten die »Kolonialpolitik kapitalistischer Staaten als ein Mittel der Ausbeutung und Unterdrückung verworfen«. Im Mittelpunkt des aktuellen Streits stünde allein die Aufteilung der »Beute« zwischen Siegern und Besiegten. Doch: »Koloniale Rechte erkennen wir keinem kapitalistischen Staate zu, weder dem deutschen noch einem fremden.«
Damit fand er in der Nationalversammlung jedoch kein Gehör - gegen die wenigen Stimmen der USPD wurde die Forderung, Deutschland wieder in seine »kolonialen Rechte« zu versetzen, beschlossen.
Parallel dazu durchlebte das 250 Kilometer entfernte Berlin heftige und blutige Streikkämpfe, denen die Regierung mit dem Einsatz von Freikorps begegnete. Viele Hauptstadtblätter erschienen nicht. So fand die Forderung nach der Rückgabe der deutschen Kolonien kaum Presseecho und wurde in der Folge auch von vielen Historikern übersehen - zumal dadurch zweifellos das Renommee der Weimarer Nationalversammlung infrage gestellt worden wäre. In den Parteiorganen der SPD, »Vorwärts«, und der USPD, »Freiheit«, wurde zwar über diese Sitzung der Nationalversammlung berichtet. Doch brachte der »Vorwärts« sogar das Kunststück fertig, die Worte des USPD-Abgeordneten so zusammenzustutzen, dass der ausführliche Verweis auf die alten antikolonialistischen Positionen der SPD vollständig entfiel. Lediglich die direkte Ablehnung des Antrags wurde vermeldet. Deutlicher konnte die Scham über die eigene Vergangenheit nicht sein.
Rechtzeitig zu den ausbrechenden Kämpfen und nur einen Tag nach der Nationalversammlungsdebatte marschierten die vorgeblichen Ostafrikaner - wie sie von der bürgerlichen Presse in einer Art vorweggenommenem Blackfacing bezeichnet wurden - aus Weimar feierlich in Berlin ein. Auch der preußische Kriegsminister, dessen Regierung von der SPD geführt wurde, nahm daran teil. Die ehemaligen Kolonialsoldaten wurden Teil der Freikorps und waren in der Folgezeit an vielen blutigen Kämpfen gegen die Arbeiterschaft beteiligt. Hatte es im Kolonialkrieg nicht zum Sieg gereicht, so doch immerhin im »eigenen Land«. Allerdings musste Lettow-Vorbeck schon ein Jahr später die Reichswehr verlassen, nachdem der Kapp-Putsch durch den Generalstreik niedergerungen worden war.
Auf das unaufgearbeitete deutsche Kolonialerbe wird heute vielfach verwiesen. Doch ist die Lehre daraus nicht zuletzt eine erneute Bestätigung der Äußerung von Karl Marx - dass ein Volk, das ein anderes unterdrückt, nicht frei sei kann. Die große Mehrheit der Weimarer Nationalversammlung hatte mit ihrer Erklärung gezeigt, dass sie nichts aus den Kolonialerfahrungen gelernt hatte. Das Deutsche Reich hielt auch nach Ende des Ersten Weltkriegs an einem Anspruch auf Kolonien fest - und so auch an der Unterdrückung anderer, vorgeblich nicht »zivilisierter« Länder. Daran ändert nichts, dass die Weimarer Republik 1933 erst beseitigt werden musste, um ein neues Kolonialreich - diesmal im Osten - zu errichten.
Reiner Tosstorff ist außerplanmäßiger Professor für Neueste und Zeitgeschichte an der Johannes- Gutenberg-Universität Mainz und forscht zur Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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