Und ewig grüßt das Masernvirus …

Wenngleich eine Impfpflicht von der Mehrheit der Menschen befürwortet wird, ist die Einführung alles andere als sicher, meint Silvia Ottow.

  • Silvia Ottow
  • Lesedauer: 4 Min.

Manche meinen gar, MeV existiert gar nicht. Die Abkürzung steht für das Measles morbillivirus aus der Familie der Paramyxoviridae, das Masernvirus. Der nur wenige hundert Milliardstel Meter große Erreger wird über Antikörper im menschlichen Organismus nachgewiesen. Im Speziallabor kann man ihn isolieren, unter dem Mikroskop betrachten, ausmessen und abbilden. Keine Zweifel bestehen an der Existenz der Masern. Sie können auch den wackersten Aluhut befallen, der Viren für Erfindungen hält, Impfungen für Teufelszeug und Infektionskrankheiten für harmlos.

Bei einem Drittel aller Erkranken treten Komplikationen wie Lungen-, Gehirn- oder Kehlkopfentzündungen auf. Bei 1000 Patienten muss man mit drei Toten rechnen. Im vorvergangenen Jahr hat sich die Zahl der Fälle in der WHO-Region Europa, zu der auch Israel und Russland gehören, auf 25 000 vervierfacht. Der Gefahr kann man, wie jedes Kind weiß, mit Impfungen ganz gut begegnen. Sie erfolgen mit abgeschwächtem Lebendimpfstoff und werden ein zweites Mal wiederholt. Nähme diese Prophylaxe über 95 Prozent der Menschen vor, käme es zu einer sogenannten Herdenimmunität. Es kann keine größeren Ausbrüchen der Krankheit mehr geben, weil auch Menschen, die aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden dürfen, durch ihre solidarischen Mitbürgerinnen geschützt sind. Masernausbrüche mit Hunderten Betroffenen, wie wir sie in den vergangenen Jahren immer wieder erlebten - 2015 starb in Berlin ein Junge -, wären dann Geschichte. So wie es in Finnland oder Nordkorea jetzt bereits ist und in den Vereinigten Staaten viele Jahre lang war. Hier galten Masern dank umfangreicher Programme und einer Impfpflicht beim Besuch von Kindertagesstätten und Schulen als ausgerottet.

Doch damit ist es anscheinend vorbei. Seit 2001 hat sich die Anzahl der ungeimpften Menschen in den USA vervierfacht. In den Bundesstaaten Washington und Oregon machen Formulare die Runde, mit denen man sich von der Impfpflicht befreien lässt. Weinende Mütter fragen vor Fernsehkameras, weshalb sie ihren Kindern Gift spritzen lassen sollen. Sie haben sich im Internet informiert und sind überzeugt, für nichts Geringeres als Menschenrechte zu kämpfen. Wie in Deutschland glauben nicht wenige von ihnen, eine Masernimpfung würde Autismus hervorrufen. Der Mediziner Andrew Wakefield, der dies vor zwanzig Jahren behauptete und mit gefälschten Zahlen zu beweisen suchte, darf in Großbritannien seinen Beruf nicht mehr ausüben. Seine Studie - Fake statt Fakten - ist aber nach wie vor in einigen Köpfen. Hier belegt sie jene Speicherplätze, auf denen besser Wahrheiten über Infektionen verankert wären.

Sollen wir den immer neuen Masernausbrüchen weiter zuschauen? Setzen wir auf Erkenntnisgewinn der jungen Mütter und Väter, zwischen Verschwörungstheorie und Wissenschaft unterscheiden zu können und ihre Babys und sich selbst immunisieren zu lassen? Liefern wir uns einem Grüppchen Verbohrter aus? Oder schaffen wir Tatsachen im Interesse der Gesundheit?

Aus fast jeder Partei hört man Menschen, die mehr Angst haben, eine Entscheidung gegen eine kleine Minderheit zu treffen, als davor, einer tödlichen Krankheit ihren Lauf zu lassen. Eine schnelle und umfassende Lösung käme folglich überraschend. Vorerst lautet die Maxime: Um Himmels Willen keinen Zwang ausüben, keine Pflicht ausrufen. Das kommt im Land der Freiheitsliebe nicht gut an. Und wenn sich SPD-Vize Karl Lauterbach weit für die Impflicht aus dem Fenster lehnt, sei hier daran erinnert, dass dies in seiner Partei nach jedem neuen Masernausbruch Usus war, also seit Jahrzehnten.

Ein Kompromiss könnte darauf hinauslaufen, Kitas und Schulen nur geimpft besuchen zu dürfen. Das wäre schon ein Erfolg für den christdemokratischen Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, den er gut brauchen kann. Ein paar Bonuspunkte aus dem Osten, wo man mit der Impfpflicht aus alter Gewohnheit, guter Erfahrung und gesicherter Kenntnis weniger Probleme hat, würden seiner Partei vor den dortigen Landtagswahlen mit Sicherheit gefallen. Bestimmt kommt in diesen Tagen noch irgendwer mit der Bemerkung um die Ecke, dass wir in Sachen Masern schon viel eher vom Osten hätten lernen müssen. Und ewig grüßt das Masernvirus …

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