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»Am liebsten hätte man mich für vogelfrei erklärt«

Wie Kristina Hänel vor die Schranken des Gerichts geriet und warum sie weiter gegen die entwürdigenden Paragrafen 218 und 219a kämpft

Sie haben Ihre Vorreiterrolle angenommen, schreiben Sie in Ihrem neuen, Ihrem zweiten Buch. Sie kämpfen weiter?

Ja, ich kämpfe weiter, sowohl gegen meine Verurteilung vor dem Amtsgericht Gießen im November 2017 wie auch gegen die Ablehnung meines Berufungsersuchens vor dem Gießener Landgericht im Oktober 2018. Gegebenenfalls werde ich den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anrufen. Denn das Recht auf Informationsfreiheit ist ein Menschenrecht. Und es darf Frauen erst recht nicht in ihren höchst eigenen Belangen vorenthalten werden.

Zur Person

Kristina Hänel, Jg. 1956, ist Allgemeinmedizinerin in Gießen, bietet Reittherapie für Kinder an und arbeitet für den Deutschen Rettungsdienst. Auf ihrer Homepage vermittelt sie Informationen zu Familienplanung, Sexualhygiene und legalem Schwangerschaftsabbruch. Letzteres brachte sie am 24. November 2017 vor Gericht. Abtreibungsgegner hatten sie mit der Begründung angezeigt, ihre Informationen seien laut Strafgesetzbuch unzulässige Werbung. Hänel wurde zu einer Geldstrafe von 6000 Euro verurteilt, ihr Berufungsersuchen wurde abgelehnt. Die leidenschaftliche Marathonläuferin gibt jedoch nicht auf. Im März erschien ihr Buch »Das Politische ist persönlich« (Argument, 250 S., br., 15 €).

Die Frauen sind oft nicht gut informiert und in einer äußerst verzweifelten Lage, wenn sie uns anrufen. Ich habe so viele dramatische Schicksale erlebt, dass ich nicht länger schweige. Ich werde so lange kämpfen, bis die Benachteiligungen, die sich aus dem Naziparagrafen 219a und dem Paragrafen 218 ergeben, beseitigt sind.

Als sogenannte Abtreibungsärztin avancierten Sie zur Person öffentlichen Interesses, obwohl Sie nie danach strebten?

Ich wurde in diese Rolle durch die sogenannten Abtreibungsgegner und »Lebensschützer« gedrängt, die ich Heuchler nenne, weil sie weder Frauen- noch Menschenfreunde sind. Ihr Gerede von »Babycaust« entsetzt mich - nicht nur, weil ich mit meiner Klezmergruppe Lieder aus dem Ghetto singe. Es war für das Unwort des Jahres 2017 nominiert, aber so viel Mut hat die Jury dann wohl doch nicht aufgebracht.

Ich verstecke mich nicht, ich will nicht, dass Frauen sich verstecken, sich schämen. Permanent wird die Würde der Frau maßlos verletzt, wider dem Grundgesetz. Es reicht! Wir Frauen wollen uns nicht länger demütigen und fremdbestimmen lassen. Es ist unmöglich, dass noch immer behauptet wird, Frauen würden leichtfertig abtreiben, oder Schwangere müssten vor sich selbst geschützt werden, da sie durch die Hormone in ihrer Entscheidungskraft beeinträchtigt seien. So ein Unfug.

Sie sind aber keine Gynäkologin, sondern Allgemeinmedizinerin?

Auch in Holland waren es zunächst Allgemeinärzt*innen, die nicht länger zuschauen wollten, wie Frauen an illegalen Abbrüchen starben. Ich nehme den Hippokratischen Eid, den Berufsethos unseres Standes, Leben zu retten und zu erhalten, ernst.

Am 3. August 2017, zwei Tage vor Ihrem Geburtstag, erhielten Sie wegen »Abtreibungswerbung« die Ladung vor Gericht. Was ging Ihnen durch den Kopf?

Zuvor schon gab es etliche Anzeigen von Abtreibungsgegnern gegen mich. Ich bin schon mehrfach vor Gericht als Zeugin aufgetreten. Dass ich jetzt als Angeklagte vor Gericht stehen sollte, war natürlich ein Schock. Meine Familie und Freunde, meine Praxis und Kolleginnen gaben mir Halt, unterstützten mich. Trotzdem habe ich zunächst viele unruhige Nächte durchlebt.

Innerhalb eines Monats erzielte Ihre erste Protestpetition 50.000 Unterschriften. Das muss ein Glücksgefühl gewesen sein?

Ich war freudig überrascht. Junge und auch ältere Frauen waren mit dankbar, dass ich in die Offensive ging, und bestärkten mich.

Zeitungen und Fernsehsender bedrängten Sie dann mit Interviewanfragen ...

Das war für mich vollkommen ungewohnt. Einmal saß ich gerade auf einem Pferd, als ich angerufen und um ein Interview gebeten wurde. Ich biete auch Reittherapie für Kinder an. Mir fiel es anfangs nicht leicht, ad hoc die richtigen Formulierungen zu finden. Aber ich war froh darüber, dass die Zeit des Abwartens, Stillhaltens, der Ungewissheit endlich vorüber war. Ich habe dann auch Kontakt zu Parteien und Politiker*innen aufgenommen.

Es verstärkten sich aber auch die Angriffe Ihrer Gegner. Wie gehen Sie damit um?

Ich lasse mich nicht einschüchtern. Dass sich zwei Tage vor meinem Berufungsprozess sogar der Papst einschaltete, mich als »Auftragsmörderin« beschimpfte, habe ich allerdings sehr persönlich genommen, als eine ernste Bedrohung. Am liebsten hätte man mich wohl für vogelfrei erklärt, wie in früheren Jahrhunderten. Jesus hätte solche Leute Pharisäer genannt. Sie spielen sich als Moralapostel auf und sind selbst zutiefst amoralisch oder deckeln Unmoral, wenn man an die Missbrauchsskandale denkt: Priester vergewaltigen und schwängern Nonnen und zwingen sie zur Abtreibung. Ich habe aber auch positive Erfahrungen mit den Kirchen gemacht - mit der evangelischen, in der viele die Streichung des Paragrafen 219a fordern, denn Jesus wollte mündige Christen, ebenso mit Menschen katholischer Konfession, etwa den Catholics for Choice. Der Leib der Frau gehört weder den Männern noch dem Staat noch irgendeiner religiösen Institution.

Berufsverbände wie die Landesärztekammer oder die Kassenärztliche Vereinigung ließen Sie allerdings im Stich?

Man sagt Mediziner*innen nach, dass sie mehrheitlich konservativ gesinnt sind. Ich habe große Resonanz bei Gynäkolog*innen erfahren. Der Vorsitzende des Berufsverbandes der Frauenärzt*innen Rheinland-Pfalz schüttelte mir bei einer Veranstaltung solidarisch die Hand. Viele Kolleg*innen kamen zum Prozess. Ich erhielt stehende Ovationen, und es gab ein empörtes Pfeifkonzert, als die Richterin das Urteil verkündete. Der Richter, der meinem Berufungsprozess vorstand, sagte mir, er müsse meinen Antrag abweisen, damit die Sache endlich zu einer Klärung komme.

Die »Klärung« hat sich als Bumerang erwiesen. Die Große Koalition beschloss eine Neufassung des Paragrafen 219a, der als Erfolg respektive guter Kompromiss gefeiert wird. Was nicht stimmt?

Eine Lüge. Der Paragraf 219a beinhaltet in seiner neuen Fassung eine Verschärfung. Ich bin von der SPD enttäuscht. Sie ist eingeknickt. Ich weiß, dass sie um ihre Existenz ringt und ein Auseinanderbrechen der GroKo nicht riskieren will. Es hätte ihr aber sehr viele Sympathien und Stimmen eingebracht, wenn sie Rückgrat gezeigt hätte.

Worin besteht die Verschärfung?

Sie besteht darin, dass jetzt explizit benannt ist: Wenn eine Ärztin oder ein Arzt Informationen zum Schwangerschaftsabbruch gibt, die darüber hinausgehen, dass sie einen solchen durchführt, ist es strafbar. Damit ist die Tür zu einer, wie bisher durchaus noch möglichen, liberalen Auslegung - eine sachliche Information ist keine Werbung - zugeschlagen. Jetzt gilt schon die Information als Werbung, und Werbung ist nicht erlaubt. Ein Richter kann den Paragrafen 219a jetzt nicht mehr zu meinen Gunsten auslegen.

Wenn ich einen Artikel in einer Fachzeitschrift veröffentliche, dann ist das auch nach dem neuen Gesetz wohl erlaubt, weil ich da Ärzte informiere. Nicht aber, wenn ich diesen Artikel auf meine Homepage stelle. Das ist doch total unlogisch. Manche sagen, es sei schon ein kleiner Schritt nach vorne, dass Ärzt*innen jetzt offen bekunden dürfen, ob sie Abbrüche machen oder nicht. Nein, ist es nicht. Frauen müssen Zugang zu allen Informationen erhalten. Und ich denke, das wird kommen. Die Gesellschaft hat sich des Themas angenommen. Es hat sich ein Wandel vollzogen, den die Politik nicht länger ignorieren kann.

Die Linkspartei fordert seit langem die Streichung der Paragrafen 218 wie 219.

Ja. Und auch die Grünen. Die FDP hat sich jetzt relativ klar positiv geäußert. Und auch die Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen steht auf meiner Seite.

Global gesehen macht Deutschland in dieser Sache eine erbärmliche Figur.

So ist es. Das katholische Frankreich hat die Beratungsregelung abgeschafft, alle Krankenhäuser führen Schwangerschaftsabbrüche durch. Die streng katholischen Iren haben den Abtreibungsparagrafen gelockert. Kanada hat keinen Strafrechtsparagrafen. In Australien gibt es Schutzzonen vor Krankenhäusern und Arztpraxen, die Abtreibungsgegner abhalten sollen. In Deutschland dürfen sie jedoch marschieren.

Wie ein Fluch aus uralten, finsteren Zeiten brach nach 1990 Paragraf 218 über die ostdeutschen Frauen herein.

Die Emanzipation der Frauen war in der DDR viel weiter fortgeschritten als bei uns.

Auch die angeblich kulantere Regelung für Ostfrauen war eine Schmach, das ihnen oktroyierte »Beratungsgespräch« wurde als persönliche Erniedrigung empfunden. Zum Glück waren jedoch die Ärzte DDR-sozialisiert und demgemäß sensibilisiert.

Dank der Ostfrauen haben wir jetzt immerhin gesamtdeutsch nicht mehr das entwürdigende Indikationsmodell, wo ein Arzt die Erlaubnis zum Abbruch geben musste. Dennoch, die Verhältnisse in Deutschland sind so rückständig, man glaubt es kaum.

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