Die Hölle, das ist das System

Im Kino: Das Sozialdrama »Ayka« schildert den Überlebenskampf einer Arbeitsmigrantin in Moskau

  • Gabriele Summen
  • Lesedauer: 3 Min.

Im Jahr 2010 wurden in Moskauer Geburtskliniken 248 Babys von Müttern aus Kirgisistan aufgegeben.» So lautete eine spärliche Notiz in einer Zeitung. Für Sergey Dvortsevoy war sie der Auslöser, zehn Jahre nach seinem großen Erfolg mit der Dramödie «Tulpan» in Cannes, erneut einen Spielfilm in Angriff zu nehmen.

Der russisch-kasachische ehemalige Dokumentarfilmer fragte sich entsetzt, wie es sein kann, dass die traditionell familienorientierten kirgisischen Mütter ihre Babys in einem fremden Land einfach ihrem Schicksal überlassen.

Die filmische Antwort, die er findet, ist für den Zuschauer nur schwer erträglich. Ganze 100 Minuten hetzt er seine titelgebende Protagonistin «Ayka» durch ein eiskaltes Moskau, das dem Vorhof der Hölle gleicht. Hauptdarstellerin Samal Yeslyamova, die in Dvortsevoys «Tulpan» debütierte, gewann für ihre schauspielerische Tour de Force zu Recht den Preis für die Beste Darstellerin beim letztjährigen Filmfestival in Cannes.

Zu Beginn sehen wir vier eingepackte Neugeborene, die im Krankenhaus auf einem scheppernden Rollwagen zum Stillen zu ihren Müttern gefahren werden. Doch Ayka, eine kirgisische Migrantin mit abgelaufener Arbeitserlaubnis, gibt vor, vorher noch einmal zur Toilette zu müssen. Mit der Kraft der Verzweiflung drückt sie das Fenster auf und klettert nach draußen, für ihr Neugeborenes hat sie keinen Platz in ihrem Leben, denn die von Schmerzen und Nachblutungen gepeinigte junge Frau muss schleunigst zu ihrem höllischen Arbeitsplatz hetzen, wo sie im Akkord Hühner rupft.

Später erfährt man, warum diese harte und schwere Arbeit so wichtig ist: Ayka hat bei den falschen Leuten Schulden gemacht, um eine Nähwerkstatt aufzubauen. Wenn sie ihr Geld nicht zurückzahlt, wird sie mit ihrem Leben dafür bezahlen müssen.

Der Chef des Hühnerschlachthofs betrügt sie und ihre Kolleginnen um ihren Lohn, doch Ayka hat nicht einmal die Zeit, darüber erschrocken zu sein oder zu lamentieren, sondern stolpert weiter durch das von einem Schneesturm heimgesuchte Moskau, auf der Suche nach einem neuen Job.

Der Zuschauer klebt stets klaustrophobisch eng an ihr, die Handkamera von Jolanta Dylewska blickt mit der Frau in dem zu dünnen Anorak gezwungenermaßen stets nach vorn und niemals zurück, verfolgt sie hektisch, stolpert mit ihr. Die Kamera hat keine Zeit für eine hübsche Nahaufnahme, die uns diese aus Gründen der schieren Überlebensnotwendigkeit abgestumpfte Frau, über die wir wenig erfahren, näher bringen oder sympathischer machen könnte.

Dies alles erinnert an die Filme der Gebrüder Dardenne, vor allem an deren 1999 ebenfalls in Cannes ausgezeichneten Film «Rosetta», der zudem eine ähnliche Geschichte erzählt.

So hetzt man atemlos mit Ayka durch die Straßen, bettelt mit ihr um einen Job, verkriecht sich kurz mit ihr in ihre kleine Schlafkoje in einer engen Sammelunterkunft für Illegale, sieht ihr dabei zu, wie sie blutet und verzweifelt ihre eingeschossene Milch abdrückt - ohne je die emotionale Distanz zu der zwangsläufig ebenfalls abgestumpften Ayka zu verlieren.

Das ist hart, aber auch erkenntnisbeschleunigend, ihre Situation ist kein bemitleidenswerter Einzelfall: Ayka ist wie das Beiruter Straßenkind Zaid aus dem Film «Capernaum», der ebenfalls im letzten Jahr in Cannes ausgezeichnet wurde, schlichtweg ein Opfer ihrer Schichtzugehörigkeit und ihrer Nationalität, ein Ausweg bleibt ihr von vornherein verwehrt.

Indem Dvortsevoy sich brutal jeder Melodramatik verweigert, schürt er im Zuschauer die Wut über ein zutiefst unmenschliches kapitalistisches System, dass sich auf der ganzen Welt ausgebreitet hat, ein System, dass nur wenige Gewinner und viele Verlierer kennt.

«Ayka», Russland/Deutschland/Polen/Kasachstan/China 2018. Regie: Sergey Dvortsevoy. Darsteller: Samal Yeslyamova, Zhipargul Abdilaeva, David Alaverdyan. 110 Min.

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