- Politik
- 1. Mai
Schicksal Europa
Gewerkschaften wollen die Euroskeptiker nicht stärken und verzichten dafür auf notwendige Kritik
Zum Glück hängt die Beteiligung am wichtigsten Kampftag der Arbeiterbewegung nicht allein von Motto und Aufruf ab. Wäre es anders, hätte die diesjährige Festlegung des DGB auf das Thema Europa so seine Tücken. »Europa« ist bekanntermaßen nur bedingt mobilisierungsfähig, zur letzten Wahl zog es nur knapp die Hälfte der stimmberechtigten Deutschen. Aber der 1. Mai ist für Gewerkschafter im Kalender fest geblockt und der diesjährige Schwerpunkt knapp vier Wochen vor der Neuwahl des Europäischen Parlaments der Bedeutung dieser Entscheidung mehr als angemessen.
Die deutschen Gewerkschaften sind sehr früh nach dem Zweiten Weltkrieg für ein geeintes Europa eingetreten. Diese positive Grundhaltung dominiert bis heute. »Wenn es die Europäische Union nicht gäbe, müsste man sie erfinden«, leitet der DGB seinen Aufruf ein. Die Gewerkschaften trommeln sei Monaten dafür, Ende Mai wählen zu gehen, damit im Parlament »die demokratischen, sozial- und umweltpolitisch fortschrittlichen Kräfte eine Mehrheit haben«, wie es ver.di formuliert. Bei der Wahl droht ein Triumph rechtspopulistischer Parteien. Die IG Metall spricht von einer »Schicksalswahl«.
Anfang des Jahres hatte eine Umfrage im Auftrag der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung die Vertrauenskrise noch einmal deutlich vor Augen geführt. Demnach war nur etwa ein gutes Drittel der befragten Deutschen der Meinung, dass die Mitgliedschaft in der EU mehr Vorteile als Nachteile mit sich bringt. Ein Viertel sah hingegen die Minuspunkte überwiegen. Zur Überraschung der Forscher fanden sich die größten EU-Skeptiker in der Altersgruppe der Berufstätigen zwischen 40 und 60 Jahre - Kernklientel der Gewerkschaften also.
DGB-Chef Reiner Hoffmann erinnert daher nun regelmäßig auch an die »vielen Verbesserungen«, die die EU für Beschäftigte bewirkt hat, verweist auf Arbeitszeiten, Urlaub und Mutterschutz und auf die Tatsache, dass in großen Teilen Europas seit über 70 Jahren Frieden herrscht. Kritik kommt in den Europa-Aufrufen der Gewerkschaften natürlich ebenfalls vor, aber ziemlich knapp, vielleicht aus Sorge, die Euroskepsis sonst weiter zu befeuern.
Klaus Dörre, Professor für Arbeits- und Wirtschaftssoziologie an der Universität Jena, hält das für einen Irrtum und meint im Gegenteil: »Gewerkschaften kritisieren den marktradikalen Grundkonsens der EU zu wenig. Sie bleiben zu affirmativ.«
Besonders an der IG Metall entzündet sich immer wieder Kritik, sie sei vor allem am Erhalt des deutschen Exportmodells interessiert, das insbesondere den Stammbeschäftigten in der Automobilindustrie hohe Löhne und ihre eigene gewerkschaftliche Organisationsmacht sichere. So stolpert man denn auch in ihrem Aufruf zur Europawahl über Formulierungen wie jene, dass die EU »an einigen Stellen« weiterentwickelt werden müsse. Nur an einigen?
Dörre, der intensiv zu Rechtspopulismus und Gewerkschaften geforscht hat, erwartet schärfere Worte. Die Gewerkschaften müssten klarer sagen, wie der Marktliberalismus in die Institutionen der EU eingeschrieben ist, wie sie Deregulierung vorangetrieben und gewerkschaftliche Organisationsmacht geschwächt hat, meint er. Sagen also, was ist und damit den Rechtspopulisten die Deutungshoheit entreißen.
Aus Dörres Sicht haben sie diese Deutlichkeit auch in der Eurokrise vermissen lassen. Als die Austeritätspolitik die EU in Peripherie und Zentrum gespalten und zerstörte Gesellschaften wie in Griechenland hinterlassen hat. »Der große Proteststurm ist ausgeblieben«, wirft der Soziologe den Gewerkschaftsvertretungen vor.
Wie solidarisch sie sich verhalten haben, darüber scheiden sich die Geister bis heute. Torsten Müller vom europäischen Gewerkschaftsinstitut ETUI in Brüssel hat den Eindruck, dass sie durchaus versucht hätten, auf die Troika einzuwirken, um die Krisenmaßnahmen abzumildern. Nur sei das weniger sichtbar als Aktionstage oder Demonstrationen.
Einig sind sich alle: Europa braucht mehr Solidarität. Davon zu reden, reicht nicht. Sie muss praktisch werden. Deshalb sind erste Ansätze wie bei Amazon zu gemeinsamen Aktionen von Beschäftigten in Deutschland und Polen so wichtig. Gewerkschaften, insbesondere in den Krisenländern, sind inzwischen zu schwach, um überhaupt noch irgendwelche Arbeitsbeziehungen zu regeln. Klaus Dörre hält daher einen europäischen Streikfonds für nötig, der tatsächlich der Rede wert ist. »Reiche Gewerkschaften wie die IG Metall könnten da einzahlen und damit schwächeren Gewerkschaften helfen, Arbeitskämpfe entlang der transnationalen Wertschöpfungskette zu führen«, erklärt er. »Es wäre gut investiertes Geld.«
Mehr Investitionen in soziale Verbesserungen, das erwarten die Gewerkschaften auch von der EU. »Europa, jetzt aber richtig«, lautet ihr Slogan zur Europawahl. Sie fordern höhere Mindestlöhne, bessere Mitsprache von Beschäftigten in Betrieb und Unternehmen, die Stärkung der Tarifbindung, eine gemeinsame Steuerpolitik. »Man muss konkrete Ansatzpunkte finden, wo Europa direkt positive Auswirkungen auf Beschäftigte haben könnte«, sagt der Brüsseler Arbeitsforscher Müller. Sehr konkret wird in diesem Sinne die Gewerkschaft ver.di, die auf ihrer Webseite eine ganze Reihe von Entscheidungen auf EU-Ebene aufführt, die Beschäftigte betreffen: von Arbeitszeitregelungen in Kliniken bis hin zu Streikrecht oder einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs, der höhere Krankenversicherungsbeiträge für Frauen verboten hat. Müller betont: »Man muss konstruktive Wege aufzuzeigen, wie Europa sozialer werden kann.« Der europäische Mindestlohn könnte aus seiner Sicht so ein verbindendes Reformprojekt sein. Hier hätten die deutschen Gewerkschaften erfolgreich ihre Hebel auf nationaler Ebene genutzt, um europäische Politik zu beeinflussen. Inzwischen hat sich die Bundesregierung diesen Ansatz für die Zeit der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im nächsten Jahr auf die Fahnen geschrieben.
Auch für den Jenaer Soziologen Dörre ist ein europäischer Mindestlohn »eine Notwendigkeit«. Noch besser fände er, wenn Gewerkschaften weitergehende, anspruchsvollere Ideen aufgreifen würden, wie etwa das Konzept der »Living wages«. Die Idee wird seit einiger Zeit in gewerkschaftsnahen Forschungsinstituten diskutiert. Danach würde regional ermittelt, welche Einkommen Menschen für ein einigermaßen auskömmliches Leben benötigen. Und dann entscheiden Kommissionen unter Beteiligung von Gewerkschaften und Unternehmerseite über das angemessene Lohnniveau. Forderungen wie diese hätten natürlich einen utopischen Überschuss. Aber Dörre ist überzeugt: »Gewerkschaften müssten solche Visionen für Europa stärken, um den Rechten den Wind aus den Segeln zu nehmen.«
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