Alles Wollen!

Der italienische Schriftsteller Nanni Balestrini ist tot

  • Christopher Wimmer
  • Lesedauer: 3 Min.

Menschen, die es völlig unironisch ernst meinen, sind rar. Reformismus und Anbiederung scheinen obligatorisch. Sei es in der Politik oder in der Kultur. Dies hat Mittelmäßigkeit und Mäßigung zur Folge.

Der italienische Schriftsteller Nanni Balestrini stand dagegen für einen unversöhnlichen Maximalismus in Form und Inhalt. Seine Politik und sein literarisches Schaffen waren verstörend, eigensinnig und provokant, denn er wollte sich nicht instrumentalisieren lassen.

Mit knapp dreißig Jahren wurde der 1935 in Mailand geborene Balestrini zu einem der führenden Köpfe der literarischen Bewegung »Neoavanguardia« und der »Gruppo 63«. Er veröffentlicht 1961 mit »Type Mark 1«, das weltweit erste Gedicht, das mit Hilfe eines Computers verfasst wurde.

1971 erscheint sein bekanntester Roman, dessen Titel ein ganzes Jahrzehnt kennzeichnen sollte: »Vogliamo tutto« - wir wollen alles. Darin beschreibt er die Auseinandersetzungen in der Automobilfabrik von Fiat in Turin. Es ist ein Buch über die Arbeit und den Zorn darauf - in einer neuen, revolutionären Sprache. Der Arbeiter Alfonso spricht im Buch »von der Wahrheit«, aber nicht nur von seiner individuellen. Er spricht für alle, er ist ein vielfaches Ich, er ist eine Gemeinschaft, die in ihm verkörpert wird. Diese »Wahrheit« ist und bleibt die Befreiung, der Kommunismus.

Balestrini ist nicht nur literarischer Zeuge, sondern auch Akteur und Protagonist der Auseinandersetzungen in Italien der 60er und 70er Jahre. 1968 wird er Mitbegründer der linksradikalen Gruppe Potere operaio und 1976 Unterstützer der »Autonomia«. 1979 wird Balestrini der Mitgliedschaft in der Guerilla beschuldigt. Er flieht erst nach Paris und später nach Deutschland.

Er schreibt auf, was er erlebt, berichtet von den Kämpf der politischen und sozialen Bewegungen, an denen er selbst teilnimmt. Mit seinem dem Buch »Die Unsichtbaren« setzt er der »Generation von 1977« den Militanten und den »Stadtindianern« ein literarisches Denkmal, die das Land in ein riesiges Laboratorium neuer Lebensentwürfe verwandelt hatten. Daraus resultierten Hausbesetzungen, Massendemonstrationen und die Gründung freier Radios, Zeitungen und Kulturzentren. Die Antwort des Staates darauf war massive Repression. Tausende von Militanten verschwinden hinter Knastmauern oder werden ins Exil getrieben.

Balestrinis Form ist radikal und episch. Er schneidet, kombiniert, absorbiert und montiert aus allen Sprachen. Er verzichtet auf Satzzeichen, vermischt Erzählebenen und bleibt dabei fragmentarisch. Es geht ihm nie nur um die politische Geschichte Italiens, sondern stets auch immer um eine neue Form und eine neue Sprache. Damit biedert er sich nicht an und sucht keine falschen Weggefährten. Er schreibt für die Menschen, die bereit sind, alles zu untergraben und alles zu wollen. Es geht um Revolution, nicht weniger.

Am Donnerstag ist er in Rom gestorben. Er wurde 84 Jahre alt.

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