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Das unterschlagene Vermächtnis
Querbeet durch die Geschichte der europäischen Idee und Identität.
Im Jahre 1876 kritzelte Reichskanzler Otto von Bismarck auf den Rand eines Briefes, den er erhalten hatte: »Qui parle d‘Europe a tort.« Wer von Europa spricht, irrt sich. Der Preuße hatte ob der (auch) seinerzeit dominierenden nationalstaatlichen Egoismen durchaus recht. Europa war nicht viel mehr und nicht viel weniger als ein geografischer Begriff. Die Menschen, die den nach einer phönizischen, von Zeus nach Kreta entführten und verführten Königstochter benannten Kontinent bevölkerten, verbanden ungeachtet dessen schon zu Bismarcks Zeit gemeinsame kulturelle Werte, darunter solche, die in Revolutionen wie der französischen von 1789 oder der gesamteuropäischen von 1848 errungen worden sind.
Die von der Grande Révolution der Franzosen verabschiedete »Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen« (Menschen- und Bürgerrechte) und deren Prinzip der Volkssouveränität fanden Nachhall in allen europäischen Staaten, nicht nur in der Mainzer Republik deutscher Jakobiner. Jahrzehnte später kämpften auf den Barrikaden in Paris, Wien, Berlin und Budapest Demokraten unterschiedlicher Nationalität Seit’ an Seit’ gegen Willkür und Zensur, für Presse-, Meinungs- und Redefreiheit sowie parlamentarische Konstitution. Ebenso bei den letzten verzweifelten Gefechten 1849 gegen die übermächtige Reaktion, etwa in der badischen Festung Rastatt; eine Schar buntgescheckter Revolutionäre hielt unter dem polnischen Oberbefehlshaber Ludwik Mierosławski, der zuvor in seiner Heimat und in Italien gegen Partikularismus und Provinzialität gestritten hatte, drei Wochen preußischer Belagerung stand (Friedrich Engels reportierte). Wenn man von einer europäischen Identität schon im 19. Jahrhundert sprechen möchte, so verkörperten diese eben jene. Selbst das Streben nach nationaler Selbstbestimmung war damals (anders als in rechter Demagogie heute) ein progressiver Impetus, Teil eines europäischen Strebens nach Befreiung vom Joch der 1815 geschmiedeten imperialen (Un-)»Heiligen Allianz« der Habsburger und Hohenzollern mit dem russischen Zaren. Konsequent-logisch fand inmitten des europäischen Revolutionsjahres 1848 in Brüssel auch ein erster internationaler Friedenskongress statt, der in den beiden Folgejahren in Paris und Frankfurt am Main fortgesetzt wurde und Abrüstung, Abschaffung der stehenden Heere sowie von allen europäischen Mächten und Mächtigen Verzicht auf Interventionen forderte. Victor Hugo trug damals seine noch unreife Vision der »Vereinigten Staaten von Europa« vor.
Man könnte natürlich als erste Europäer die Kathedralenbauer des Mittelalters nennen, die von Land zu Land, von Bischofssitz zu Bischofssitz wandelten, frei im Geiste, Grenzen auch im metaphorischen Sinne überschreitend. Der berühmte Naumburger Meister, dessen Namen wir nicht kennen und der Mitte des 13. Jahrhunderts die schöne Uta im Naumburger Dom schuf, war zunächst in Amiens und Reims tätig, später in Metz, Mainz und Meißen (über ihn hat übrigens die Schriftstellerin Rosemarie Schuder einen zauberhaften Roman verfasst). Gleiches lässt sich von den großen Künstlern und Gelehrten der Renaissance sagen. Leonardo da Vinci und Giordano Bruno, Gottfried Wilhelm Leibniz und Michail Lomonossow fühlten, dachten, wirkten europäisch, während sich die Mehrheit der Menschen noch als Brandenburger, Bayer, Böhme, Baske etc. verstand.
Dennoch gediehen schon im 17. Jahrhundert konkrete Vorstellungen von einem geeinten Europa - auch als Reaktion auf die Bedrohung durch das Osmanische Reich; es waren - nebenbei bemerkt - Polen und Litauer, die Wien 1683 von türkischer Belagerung befreiten. Zwanzig Jahre zuvor hatte der französische Marquis Maximilian von Béthune in seinem »Grand Dessin« (Großer Entwurf) eine Föderation von England über Frankreich, Dänemark, die Niederlande und Schweden bis nach Italien, Böhmen, Polen und Ungarn skizziert, die insbesondere die Bewegungsfreiheit talentierter Handwerker und Künstler sowie den Gedankenaustausch der Gelehrten fördern sollte. Etwa zu gleicher Zeit plädierte der englische Quäker William Penn in seinem »Essay toward the Present and Future Peace of Europe« im Interesse gegenwärtigen und künftigen Friedens auf dem Kontinent explizit für die Einbeziehung Russlands und der Türkei in einen europäischen Bund. Und Immanuel Kant definierte im »Ewigen Frieden« als Voraussetzung für einen solchen weltweit den kategorischen Zusammenschluss europäischer Republiken.
Nach den Material- und Menschenschlachten 1914 bis 1918 gewann die Idee der europäischen Einigung neuen Auftrieb. Im Gegensatz zum Engländer Penn zeichnete der Österreicher Richard Nikolaus Graf von Coudenhove-Kalergi zur Begründung seiner Paneuropa-Union in einem Manifest von 1924 das Schreckgespenst einer Eroberung Europas durch die Sowjetunion respektive der Erniedrigung zur US-amerikanischen Wirtschaftskolonie. Konservativem Kalkül entsprach auch das von einem seiner Nachfolger an der Spitze der Paneuropa-Union, dem CSU-Europaabgeordneten Otto von Habsburg, veranstaltete Paneuropäische Picknick im August 1989 an der ungarisch-österreichischen Grenze nahe Sopron, das ein erstes Loch in den Eisernen Vorhang riss und heute als Auftakt des Zerfalls des »Ostblocks« gefeiert wird; 700 DDR-Bürger nutzten damals die Gelegenheit zur Flucht in den Westen.
Ideologisch konfrontativ ist auch die heutige, aus einem wirtschaftlichen Zweckverband (Montan-Union, 1951) erwachsene, sich gen Russland und den globalen Süden abschottende Europäische Union. Diffuse abendländische Werte werden beschworen. Etymologisch meint »Europa« (aus dem Phönizischen stammend) zwar tatsächlich Abendland, jedoch nicht in christlicher Konnotation, sondern schlicht als »Land, in dem die Sonne untergeht«. Der Briand-Kellogg-Pakt des französischen und US-Außenministers von 1928, der alle Kriege ächtete, wäre ein konstruktiverer Impuls als göttliche Gebote. Würde die EU ihn als verbindlich und unveräußerlich an- und aufnehmen, hätte sie den Friedensnobelpreis wirklich verdient.
Geradezu sträflich ist die (gelinde gesagt) Ignorierung des Antifaschismus, was sich derzeit in fataler Weise rächt. Nicht nur Rechtspopulisten, auch EU-Politiker fürchten allein das Wort wie der Teufel das Weihwasser, übertrumpfen sich in dessen Diffamierung und Diskreditierung. Indes, ähnlich den 1848er revolutionären haben Antifaschisten diverser Nationen, sozialer Herkunft und weltanschaulicher Position in den Jahren faschistischer Barbarei europäische Identität beispielhaft vorgelebt: in Interbrigaden in Spanien, der französischen Résistance, italienischen Resistenza, bei Titos Partisanen, im Widerstand allerorts. Unabhängig voneinander verfassten angesichts mörderischer Tyrannei (um zwei Namen zu nennen) der italienische Kommunist Altiero Spinelli und der deutsche Sozialist Willy Brandt Papiere im Untergrund und Exil für ein soziales, friedliches Nachkriegs-Europa.Vielstimmig war die Häftlingsgemeinschaft in den deutschen Konzentrationslagern. Wäre deren Vermächtnis, im Schwur von Buchenwald artikuliert, in EU-Verträgen kodifiziert, wäre rechter Ungeist nicht aus der Welt, aber gewiss minimiert und erfolgreicher abzuwehren. Solange ein klares Bekenntnis wider alle Faschismen ausbleibt, bleibt nur banges Hoffen, dass die Sonne der EU nicht erlischt, nicht wieder die Nacht des Faschismus über Europa hereinbricht.
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