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»Die Abtreibungsdebatte soll in den Wahlkampf einfließen«

In Argentinien kämpfen Frauen für die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen

  • Juri Wasenmüller
  • Lesedauer: 8 Min.

Heute vor 14 Jahren wurde in Argentinien die Kampagne für das Recht auf sichere und kostenlose Abtreibung beschlossen. Im Juni 2018 kam es erstmals zu einer Debatte im Abgeordnetenhaus über den Gesetzesentwurf, der nach 23 Stunden Diskussion mit knapper Mehrheit befürwortet wurde. Etwa eine Million Menschen harrten im argentinischen Winter die ganze Nacht auf dem Platz vor dem Kongress aus.

Zwei Monate später, am 8. August, sollte der historische Schritt der Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen im Senat besiegelt werden. Zwei Millionen Menschen und ein Meer aus grünen Halstüchern, dem Symbol der Kampagne, versammelten sich auf demselben Platz. Der Senat stimmte gegen das Gesetz. Jetzt geht der Kampf um reproduktive Rechte in die nächste Runde. Der Gesetzesentwurf wurde nach den Erfahrungen des letzten Jahres leicht verändert und ergänzt und wird heute erneut im Abgeordnetenhaus präsentiert, mittlerweile bereits zum achten Mal.

Victoria Tesoriero
Victoria Tesoriero ist Dozentin für Soziologie und postkoloniale Studien an der Universidad de Buenos Aires (UBA). Sie ist Teil des Kommunikationsteams der Kampagne für legale, sichere und kostenlose Abtreibung und gleichzeitig in der Organisation »Katholikinnen für das Recht auf Selbstbestimmung« aktiv.

Sie kommen gerade vom Film-Festival in Cannes. Dort wurde der Film »Será Ley« (Zu Deutsch: »Es wird Gesetz sein«) über die argentinische Kampagne zur Legalisierung von Abtreibung präsentiert. Auf dem Roten Teppich haben Sie eine kleine Demo veranstaltet. Wie kam das an?

Ich glaube wir sind die erste soziale Bewegung, die die Feierlichkeiten in Cannes zur Sichtbarmachung ihrer politischen Forderungen genutzt hat. Nur aus diesem Grund sind wir mit so vielen Leuten nach Frankreich gereist: Wie wollten internationale Aufmerksamkeit für unsere Kämpfe. Die haben wir bekommen. Unglaublich viele Festivalteilnehmer*innen haben uns gefilmt oder fotografiert, wie wir mit unseren grünen Halstüchern und Bannern über den Roten Teppich liefen. Wir wurden mit Applaus begrüßt und internationale Medien haben über den Film und die Situation in Argentinien berichtet.

Zurück in Argentinien bringen Sie den Gesetzesentwurf erneut im Abgeordnetenhaus ein. Die Senator*innen, die letztes Jahr dagegen gestimmt haben, sind immer noch in der gleichen Besetzung im Amt. Was erhoffen Sie sich von dieser Vorstellung des Gesetzesentwurfes?

Jetzt wird der leicht veränderte Gesetzesentwurf erst einmal nur präsentiert und an die zuständigen Kommissionen der Abgeordneten übergeben. Ob und wann es zu einer erneuten Debatte und Abstimmung kommt, steht noch nicht fest und davon hängt wiederum ab, ob das Gesetz überhaupt vor den Senat kommt. Aber wir werden das Gesetz solange in jeder parlamentarischen Periode einbringen, bis Abtreibungen legal sind. Dieses Jahr im Oktober stehen die Präsidentschaftswahlen an. Die Kritik am neoliberalen Kurs von Präsident Macri wächst. Unser Ziel ist es, dass die Abtreibungsdebatte in den Wahlkampf einfließt, dass sich die Kandidat*innen und Parteien positionieren müssen. Und dass es so viel öffentlichen Druck gibt, dass der neuen Regierung dann im nächsten Jahr nichts anderes übrigbleibt, als das Gesetz endlich zu verabschieden.

Wie ist die momentane Gesetzeslage, wenn eine Person abtreiben will?

Schwangerschaftsabbrüche sind in Argentinien unter drei Umständen legal: Wenn die Schwangerschaft das Leben der Mutter gefährdet; wenn die körperliche, psychische oder emotionale Gesundheit der Mutter gefährdet ist und wenn die Schwangerschaft das Ergebnis einer Vergewaltigung ist. Aber viele Ärzt*innen oder ganze Krankenhäuser verweigern Schwangeren selbst in diesen Fällen ihr Recht auf eine Abtreibung. In den letzten Jahren sind daher feministische Netzwerke und Beratungsstellen entstanden, die Abtreibungen mit Misotropol-Tabletten begleiten. Diese finden zu Hause statt und man muss sich gar nicht erst mit der Situation in Krankenhaus konfrontieren. Circa 500.000 klandestine Schwangerschaftsabbrüche finden pro Jahr in Argentinien statt, nicht alle unter sicheren Bedingungen. 2018 sind 33 Frauen dabei umgekommen, in den Jahren zuvor noch viel mehr.

Diese Verringerung der Todesfälle liegt an der Selbstorganisation und Aufklärungsarbeit?

Unter anderem. Außerdem wurde der Zugang zu Misotropol-Tabletten letztes Jahr erleichtert, sie wurden zum gynäkologischen Gebrauch freigegeben und werden seitdem von mehreren Herstellern produziert. Vorher gab es ein Produktionsmonopol und die Preise wurden massiv angehoben, nachdem der Pharmakonzern festgestellt hatte, dass Frauen das Medikament, welches eigentlich gegen Magengeschwüre eingesetzt wird, zum Abtreiben benutzen. Solche kleinen Fortschritte gab es immer wieder.

Was sind die Forderungen im aktuellen Gesetzesentwurf?

An unseren Grundforderungen hat sich seit 2005 nichts verändert. Die lauten: »Sexualunterricht zur Vorbeugung, Verhütungsmittel, um nicht abtreiben zu müssen und legale Abtreibung, um nicht zu sterben.« Bis zur 14. Schwangerschaftswoche sollen Schwangere das Recht auf eine Abtreibung haben, ohne diese Entscheidung begründen zu müssen. Abtreibungen sollen kostenlos und sicher in jedem öffentlichen Krankenhaus durchgeführt werden. Außerdem muss das Thema Schwangerschaftsabbrüche aus dem Strafgesetzbuch gestrichen werden, es geht hier um Grundrechte und nicht um Straftaten.

Welche Veränderungen gibt es im Vergleich zum Entwurf von 2018?

Es gab Ergänzungen, die aber im Grunde eher Hervorhebungen von Rechten sind, die nicht umgesetzt werden. Zum Beispiel gibt es seit 2006 ein Gesetz, dass einen integralen Sexualkundeunterricht an Schulen vorschreibt. Aber es mangelt an Lehrpersonal mit der notwendigen Ausbildung. Außerdem gibt es ein Recht auf sexuelle Gesundheit und ein Gesetz, dass den kostenlosen Zugang zu Verhütungsmitteln bewerkstelligen soll. Kneipen und Clubs sind zum Beispiel verpflichtet, an der Bar kostenlos Kondome auszugeben. Auch dieses Gesetz wird oft missachtet. In unserem Gesetzesentwurf plädieren wir für die Umsetzung dieser Rechte, die bereits erkämpft wurden.

Können Sie sich erklären, was letztes Jahr zum Fast-Durchkommen des Gesetzes geführt hat?

Die 2 Millionen Menschen vor dem Kongress kamen nicht aus dem Nichts. Seit 33 Jahren findet in Argentinien ein nationales Frauentreffen statt, jedes Jahr in einer anderen der 23 Provinzen. In den vergangenen Jahren kamen jeweils um die 100.000 Frauen und Queers zusammen. Diese Treffen sind der Grundstein des argentinischen Feminismus, bei denen die politische Agenda diskutiert und festgelegt wird. So ist die Kampagne zur Legalisierung von Abtreibungen entstanden. Der Kampagne haben sich mittlerweile etwa 600 unterschiedliche Organisationen angeschlossen, Menschenrechtsorganisationen, Parteien, Gewerkschaften, Gruppen von Studierenden, Ärzt*innen und feministische Basisorganisationen. Dadurch erreichen feministische Themen die gesamte Gesellschaft und das ist einzigartig in Argentinien.

Wie kamen Sie zur Kampagne?

Ich habe mit 15 abgetrieben. Meine gesamte Familie hat damals Geld zusammengelegt, damit ich dafür in eine Klinik gehen konnte. Mein Vater dachte, ich würde sterben. Viele Jahre lang habe ich nicht darüber geredet. Gegen Ende meiner Schulzeit fing ich dann an, mich in Frauenorganisationen zu engagieren, ich fuhr zum ersten Mal zum Nationalen Frauentreffen und lernte dort die Aktivist*innen der Kampagne kennen. Das war vor 11 Jahren.

Sie sind gleichzeitig in der Organisation »Católicas por el Derecho a Decidir« (zu Deutsch: »Katholikinnen für das Recht auf Selbstbestimmung«) aktiv. Kirche und reproduktive Rechte, wie geht das zusammen?

Ich finde, dass Fragen des Glaubens nichts mit Fragen von Grundrechten zu tun haben. Tatsächlich wollte ich in meiner Jugend gerade wegen der Positionen in Bezug auf Genderthemen nichts mehr von der katholischen Kirche wissen. Eine Kommilitonin aus dem Soziologiestudium lud mich dann zu einer Veranstaltung der »Katholikinnen für das Recht auf Selbstbestimmung« in der Provinz Salta ein. Ich nahm an einem Workshop teil, in dem es um feministische Theologie ging und in dem der ganze katholische Diskurs von Schuld und Sühne auf den Kopf gestellt wurde. Frauen, die vorher noch nie etwas von Feminismus gehört hatten, verließen den Raum als Feministinnen. Das war vor 10 Jahren. Ich bin der Organisation beigetreten, weil ich das Gefühl hatte, dass sie ein anderes Publikum erreichte, als die meisten feministischen Gruppen zu dem Zeitpunkt.

Die Kampagne der selbsternannten »Pro Vida« (zu Deutsch: »Für das Leben«)-Bewegung mit dem Symbol der hellblauen Halstücher kommt aber hauptsächlich aus Kirchenkreisen.

Stimmt, dahinter stehen vor allem evangelikale Kirchen, die mittlerweile in der ganzen Region konservative und rechte Regierungen unterstützen, zum Beispiel unter Bolsonaro in Brasilien. Und auch die katholische Kirche hat im letzten Jahr eine antifeministische Lobby im Senat betrieben und sich gegen Abtreibungen ausgesprochen. Aber das respräsentiert nicht die Meinung aller Katholik*innen. 83 Prozent der argentinischen Bevölkerung ist katholisch. Eine Umfrage der Kampagne hat 2018 ergeben, dass 70 Prozent der Argentinier*innen für die Legalisierung von Abtreibungen sind, darunter sind also offensichtlich auch viele Katholik*innen.

Sie haben gerade die Situation unter Bolsonaro in Brasilien erwähnt. Wie sieht es in den anderen Ländern Lateinamerikas, in Bezug auf reproduktive Rechte, aus?

Abtreibungen sind nur in Kuba, Uruguay, Mexiko Stadt und den französischen Kolonien legal. Wenn das Gesetz hier in Argentinien durchkommt, wären wir damit das bevölkerungsreichste Land, das das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche garantiert. Und das hätte Auswirkungen auf die ganze Region.

Sollte das Gesetz durchkommen, bleibt dann wie beim Gesetz zum Integralen Sexualkundeunterricht, die Frage der Umsetzung bestehen?

Wir als Kampagne kämpfen für die Legalisierung auf Gesetzesebene, aber wir sind uns bewusst, dass es eine viel größere gesellschaftliche Veränderung braucht. Es gibt eine riesige Kluft zwischen Buenos Aires und den restlichen Provinzen, was den Zugang zu medizinischer Grundversorgung betrifft. Das Risiko an einer klandestinen Abreibung zu sterben hängt davon ab, in welcher Provinz und in welcher sozialen Klasse man geboren wird. Es gibt jede Menge Kämpfe, die nach der Legalisierung anstehen: Dass Ärzt*innen sich an das neue Gesetz halten, dass das Thema Abtreibung in die Lehrpläne von Medizinstudierenden kommt, dass die Selbstbestimmung über den eigenen Körper in allen gesellschaftlichen Sphären bedingungslos akzeptiert wird. Letztes Jahr waren auf dem Platz vor dem Kongress teilweise 10 bis 15-Jährige, ganze Schulklassen, mit dem grünen Halstuch, die für die Legalisierung von Abtreibungen und für Sexualkundeunterricht demonstrierten. Das macht Hoffnung.

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