- Wirtschaft und Umwelt
- Schuldenbremse
Bremsen statt Brücken
Vor zehn Jahren hat der Bundestag die Schuldenbremse beschlossen, doch der Härtetest steht noch aus
Von der Finanzkrise war noch gar keine Rede. Damals, ein halbes Jahr vor Ausbruch der großen Krise, beschlossen die Fraktionen von CDU/CSU, SPD und FDP, eine gemeinsame Kommission einzusetzen, die die Finanzbeziehungen zwischen dem »reichen« Bund und den »armen« Ländern neu justieren sollte.
Letztlich erhielten viele Länder mehr Geld aus den Steuertöpfen - und die schwarz-rote Bundesregierung einen Hebel, um die Staatsverschuldung zu deckeln. Mit der sogenannten Schuldenbremse wird die Neuverschuldung der Länder verboten und für den Bund auf ein Minimum begrenzt. Eine Regel, die nach Auffassung vieler Kritiker aus allen politischen Lagern den wirtschaftspolitischen Spielraum künftiger Regierungen erheblich einschränkt.
Auch in der EU gibt es eine Schuldenbremse. Aufgrund der »Makroökonomischen Konditionalitäten« können EU-Mitgliedsstaaten mit einer Geldstrafe in Höhe von bis zu 0,5 Prozent des BIP belegt werden, wenn sie eine der beiden Verschuldungsgrenzen überschreiten, die der Europäische Rat 1992 im Maastrichter Vertrag für die Eurozone festgelegt hatte (Gesamtverschuldung maximal 60 Prozent, Neuverschuldung drei Prozent des Bruttoinlandprodukts). Zurzeit steht Italien am Pranger.
Viele EU-Regierungen wollen säumigen Schuldnern außerdem im kommenden Finanzplan 2021 bis 2027 Zuschüsse kürzen. Das Europaparlament will das mehrheitlich verhindern. hape
Dafür gab es einen offensichtlichen Grund: Im Maastrichter Vertrag von 1993 hatte sich die Bundesrepublik zu einer Schuldenquote von 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) bekannt. So willkürlich diese Grenzziehung aus Sicht der Ökonomen auch ist, Deutschland, das als Exportweltmeister besonders vom EU-Binnenmarkt und der neuen Währung Euro profitierte, sah sich zur Einhaltung der Maastricht-Regel (noch) verpflichtet.
Kredite von 300 Milliarden Euro in nur einem Jahr
Allerdings war die Schuldenquote bis dahin regelmäßig fünf bis sieben Prozentpunkte höher als erlaubt. Nach dem Crash auf den internationalen Finanzmärkten 2007/2008 schoss sie dann noch viel weiter in die Höhe - weil die Rettungspakete für Banken und die Konjunkturprogramme durch abermilliardenschwere Kredite finanziert wurden. In der Spitze pumpte sich der Bund mehr als 300 Milliarden Euro - in nur zwölf Monaten.
Mit äußerst knapper Zwei-Drittel-Mehrheit beschlossen Union und SPD am 29. Mai 2009, eine Schuldenbremse für Bund und Länder einzuführen und diese im Grundgesetz zu verankern. Zukünftig sollte eine Schuldenbremse der Politik den bequemen Weg verbauen, durch neue Kredite ihrer »Verteilungsmentalität« zu frönen, freute sich der damalige sozialdemokratische Bundesfinanzminister Peer Steinbrück nach ihrer Verabschiedung.
Von seinen Kindern befragt, erklärte der gescheiterte Kanzlerkandidat die Schuldenbremse für seine wichtigste politische Lebensleistung. Sie entschärfe den »Detonator mit späterer Zündung«, schreibt Steinbrück 2010 in seiner Biografie. Mit zunehmender Staatsverschuldung verringere sich nämlich langfristig der Spielraum, die sozialen Sicherungssysteme mit Zuschüssen aus dem öffentlichen Haushalt zu unterstützen.
Mit der Einführung der Schuldenbremse dürfen die Bundesländer ab 2020 gar keine Schulden mehr aufnehmen, dem Bund bleibt seit 2016 nur noch geringer Spielraum. Dessen Defizit wurde auf 0,35 Prozent des nominalen BIP begrenzt. Die meisten FDP-Abgeordneten enthielten sich bei der Einführung ihrer Stimme; Linkspartei und Grüne stimmten dagegen. Selbst in den Regierungsparteien gab es Gegenstimmen und Enthaltungen.
»Einige mögen sie gar nicht«, analysiert Steinbrück, »andere wollten eine noch rigidere Lösung.« Schließlich eröffnen die Artikel 109 und 115 im geänderten Grundgesetz der Politik durchaus Schlupflöcher. So bleibt eine antizyklische Kreditaufnahme während eines wirtschaftlichen Abschwungs möglich.
Da die deutsche Wirtschaft nach der Finanzkrise bemerkenswert schnell wieder in die Spur fand, blieb der Härtetest bislang aus. Die günstige Konjunktur lässt die Steuereinnahmen sprudeln, auf der Ausgabenseite entlastetet die zunehmende Beschäftigung den Haushalt, und die extrem niedrigen Zinskosten ersparen dem Bundesetat 2019 wieder einen zweistelligen Milliardenbetrag. »In diesem Jahr dürfte die staatliche Schuldenquote deutlich unter den Maastrichter Referenzwert von 60 Prozent sinken und damit den niedrigsten Stand seit dem Jahr 2002 erreichen«, erwartet Andreas Martin, Vorstand des Bundesverbandes der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken (BVR).
Die rigide Politik der »Austerität« (griech.: Sparsamkeit, Entbehrung), die Steinbrücks Nachfolger Wolfgang Schäuble (CDU) ganz Europa verschrieb, ging allerdings unterm Strich zulasten sozialpolitischer Aufgaben und Investitionen beispielsweise in Brücken oder die Lehrerausbildung. Mit seiner staatlichen Investitionsquote liegt Deutschland international günstigstenfalls im Mittelfeld.
Nicht allein der genossenschaftliche Bankenverband BVR fordert, die Politik solle endlich nach dem Grundsatz »Investitionen first« handeln. Ausgaben in Höhe von zusätzlich 15 bis 20 Milliarden Euro pro Jahr für neue Brücken und Schulen wären sogar innerhalb der Schuldenbremse machbar. Insgesamt hat der Bundeshaushalt ein Volumen von rund 350 Milliarden Euro.
Wird die Schuldenquote im gleichen Tempo wie bislang zurückgeführt, würde sie sich in zehn Jahren mit rund 40 Prozent bereits auf einem äußerst niedrigen Niveau befinden. Mehr und mehr wird sich also die Frage stellen, welchen Sinn eine weitere Verringerung noch haben soll. So brummt der Wirtschaftsmotor im vergleichbar starken Japan, trotz oder gar wegen einer Schuldenquote von weit über 200 Prozent.
Auch Wirtschaftsvertreter fordern eine Reform der Schuldenbremse
Kürzlich überraschte ausgerechnet der Direktor des unternehmensnahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), Michael Hüther, mit einem 32-seitigen Papier anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der Schuldenbremse, indem er eine »innovations- und wachstumspolitische Öffnung der Schuldenbremse« forderte.
Mit dem »günstigen Zinsumfeld« hätten sich die Bedingungen für die öffentliche Verschuldung seit der Wirtschafts- und Finanzkrise grundlegend verändert. »Eine intergenerative Umverteilung zulasten künftiger Generationen ist deshalb derzeit und absehbar nicht mehr gegeben.« Hüther will allerdings die Schuldenbremse allein für staatliche Investitionen lockern.
Gewerkschaftsnahe Ökonomen wie Rudolf Hickel und die neue amerikanische Schule »Modern Monetary« sehen Schulden ohnehin nicht so grundlegend negativ wie Hüther und der wirtschaftsliberale Mainstream. Für Staaten gelte wie für Unternehmen, dass ein gänzlicher Verzicht auf Verschuldung eine schlechtere Form des Wirtschaftens darstellt.
Ende Juni will der Bundestag über den Finanzplan bis 2023 beschließen. Vielleicht bekommt die Schuldenbremse dann erste politische Risse.
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