Tickende Zeitbomben

Experten ziehen ein Jahr nach dem Urteil im Münchner NSU-Prozess Bilanz / Gefahr rechten Terrors größer denn je

  • Rudolf Stumberger, München
  • Lesedauer: 3 Min.

Am Montag hatte die Generalbundesanwaltschaft die Ermittlungen im Mordfall Walter Lübcke an sich gezogen. Denn der zuvor festgenommene Tatverdächtige ist ein den Behörden seit langem bekannter Neonazi.

Vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse gewinnen die Warnungen, die Terrorismusforscher und Juristen am Dienstag in München aussprachen, zusätzliche Brisanz. Sie zogen ein Jahr nach dem Urteil im Münchener NSU-Prozess und dem Versprechen der Bundesanwaltschaft, die Ermittlungen weiterzuführen, Bilanz.

Seit der Selbstenttarnung des NSU im November 2011 sei die Zahl rechtsterroristischer Vorfälle gestiegen, sagte Matthias Quent vom Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft Jena bei einem Pressegespräch. Vor allem im Zusammenhang mit dem Zuzug Hunderttausender Geflüchteter 2015 habe es eine Verstärkung rechtsradikaler Tendenzen gegeben. Die Rechtsanwältin Antonia von der Behrens - sie hatte die Familie des NSU-Opfers Mehmet Kubasik vertreten - warnte vor einer ähnlichen Entwicklung wie in den 1990er Jahren, als der NSU entstand. Mitat Özdemir, ehemaliger Vorsitzender der Interessensgemeinschaft Keupstraße, sagte, bei der Bekämpfung des Rechtsterrorismus sei es fünf vor zwölf. In der Kölner Keupstraße waren durch ein Nagelbombenattentat des NSU vor 15 Jahren 22 Menschen verletzt worden.

Zu dem Gespräch unter dem Titel »Ein Jahr nach dem NSU-Urteil: Wo stehen wir heute?« hatte der Mediendienst Integration eingeladen. Quent sagte, die historische Bedeutung des NSU-Prozesses sei zwar unstrittig. Aber viele Fragen seien unbeantwortet geblieben. So sei nicht geklärt, wie der NSU Tatorte und Opfer ausgewählt habe. Aktive des Unterstützernetzwerks seien nicht zur Rechenschaft gezogen worden. Zudem habe der Prozess mit seinen milden Urteilen eine Signalwirkung in die rechte Szene gehabt. So werde Ralf Wohlleben in der Neonaziszene als Märtyrer verherrlicht. Der frühere Thüringer NPD-Funktionär war wegen Beihilfe zum Mord in neun Fällen zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt worden.

Kurz nach Prozessende war er nach sechs Jahren und acht Monaten aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Quent erinnerte daran, dass ein aktives Netzwerk seine Wiedereingliederung in die rechtsradikale Szene organisiert hat. Quent: »Für andere Rechtsradikale ist die Botschaft klar: Egal, wie weit jemand im Kampf für die geteilte Ideologie geht, sie oder er kann sich auf die Solidarität der Szene verlassen.«

Rechtsanwältin von der Behrens monierte, dass die Herkunft von 17 der 20 Schusswaffen, die im ausgebrannten Wohnmobil der NSU-Täter gefunden worden waren, bis heute unklar sei. Die Aussage der Bundesanwaltschaft, mit dem Münchner Urteil werde kein Schlussstrich bei den Ermittlungen gezogen, ist für sie nur ein »Lippenbekenntnis«. Der Prozess, so ihr Fazit, habe keine abschreckende Wirkung auf die Szene gehabt. Neonazis seien am Wohnort der Opferfamilie Kubasik sehr präsent. Gegen die Urteile hätten vier Angeklagte Anträge auf Revision eingereicht, erinnerte von der Behrens. Weiter beklagte sie: »Wir warten heute noch auf die schriftliche Urteilsbegründung.« Die Richter können sich damit noch bis April 2020 Zeit lassen.

Mitat Özdemir berichtete, die Anwohner der Kölner Keupstraße bekämen bis heute Drohbriefe mit der Aufforderung, Deutschland zu verlassen. Ein Mahnmal für die Opfer des Attentats von 2004 habe sich bis heute nicht realisieren lassen. Özdemir glaubt, der Rechtsradikalismus sei »stärker geworden«. So sieht es auch Terrorismusforscher Quent. Die Szene habe sich ausdifferenziert, neue Gruppierungen wie die »Identitären« hätten großen Zulauf. Eine besondere Gefahr stellten die Anschläge von allein handelnden rechten Attentätern dar. Akteure aus den 1990er Jahren würden nun wie »Schläfer« wieder aktiv, seien »tickende Zeitbomben«. Vonseiten der Behörden würden rassistische und rechte Tathintergründe noch immer nicht angemessen berücksichtigt.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.