Herrin des Geldes

Europas neue Zentralbankchefin erbt eine Krise.

Viele Ökonomen halten ihr Metier für eine exakte Wissenschaft. Irritiert reagierten sie daher auf die Nachricht, Christine Lagarde werde die künftige Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB). »Lagarde hat keine formale wirtschaftswissenschaftliche Ausbildung und tauchte bislang nie in geldpolitischen Diskussionen auf«, monierte Erik Nielsen, Chefvolkswirt der Bank Unicredit. Diese Bedenken dürften unberechtigt sein. Denn als Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF) muss die Französin nicht groß umlernen. Schließlich geht es bei der Führung von IWF und EZB weniger um Kenntnis ökonomischer Theorien. Sondern um die Verwaltung ökonomischer Macht.

Die EU-Staaten haben sich diese Woche auf ein neues Spitzenpersonal geeinigt. Wenn Lagarde ihr Amt am 1. November antritt, findet sie zwar ein verändertes Arbeitsumfeld vor. Ihre Funktion ist aber gar nicht so neu. Denn IWF wie EZB sind Institutionen, die mit ihrer Kreditmacht als politische Garanten des globalen Finanzsystems fungieren. Sie sind die Autoritäten, die die weltweite Spekulation haltbar machen.

Kredite für die Verlierer

Der IWF wurde 1944 auf Betreiben der US-Regierung gegründet. Washington verließ sich schon damals nicht darauf, dass Welthandel und Weltfinanzmarkt stabile Systeme sind, von denen letztlich alle Staaten profitieren. Aus historischer Erfahrung wussten die USA, dass die globale Konkurrenz neben Gewinnern regelmäßig auch Verlierer produziert, also Staaten, die von privaten Geldgebern keine Kredite mehr bekommen und daher vor der Pleite stehen.

Um Pleiten und daraus folgende Krisen zu verhindern, wurde der IWF gegründet. Durch die hinter ihm stehenden Finanzkraft der Weltwirtschaftsmächte verfügt der Fonds über Hunderte von Milliarden, greift damit gefährdeten Regierungen mit zinsgünstigen Krediten unter die Arme und gewährleistet so, dass sie ihren Verpflichtungen gegenüber Banken und anderen Gläubigern nachkommen können. Obwohl die so begünstigten Länder nach kapitalistischen Maßstäben zahlungsunfähig sind, erhält der IWF durch politisch motivierte Kredite oder Kreditgarantien ihre Zahlungsfähigkeit. So verhindert er eigentlich fällige Staatspleiten und schützt die Gläubiger dieser Staaten vor der Entwertung ihrer Investments. Für die Weltfinanzmärkte ist der Fonds damit eine glaubwürdige Absicherung für ihre Spekulation. Denn seine Finanzkraft hängt nicht vom Auf und Ab der Märkte ab, sondern von politischen Beschlüssen der IWF-Direktoren.

Diese Leistung - die Verlierer des Weltmarkts geschäftsfähig zu halten - vollbringt der IWF heute in Dutzenden von Staaten, von Argentinien über Pakistan bis zur Ukraine. Viele Länder der Welt erhalten von den Finanzmärkten nur Geld, wenn sie über Beistandsabkommen mit dem IWF verfügen. Der Preis, den sie dafür zahlen, ist oft hoch: Sparprogramme wie in Griechenland sind im globalen Süden seit Jahrzehnten bekannt.

Mit Massen von staatlich gestiftetem Kredit eine Krise und Entwertung zu verhindern - in diese Funktion sind seit der großen Finanzkrise auch die großen Zentralbanken gerutscht. Die EZB hat die Leitzinsen auf null Prozent gedrückt und sorgt so dafür, dass Regierungen, Banken und Unternehmen zahlungsfähig bleiben. Denn die Schulden von Staaten und Privatsektor sind in den vergangenen Jahren explodiert. Global belaufen sie sich inzwischen auf 244 Billionen Dollar, das ist das Dreifache der Weltwirtschaftsleistung. Angesichts dieses Schuldenbergs warnt der IWF regelmäßig davor, dass steigende Zinsen ein gigantisches finanzielles Risiko darstellen.

Damit die Zinsen nicht steigen, haben EZB und andere Zentralbanken nicht nur die Leitzinsen gesenkt. Sie haben auch massenhaft Schuldscheine erworben. Die EZB hat Anleihen über 2,6 Billionen Euro gekauft, davon 2,1 Billionen Anleihen von Staaten. Die US-Zentralbank (Fed) hat mehr als 3,5 Billionen an Papieren in ihrer Bilanz. Gemeinsam mit der japanischen und der britischen Zentralbank haben EZB und Fed seit der Krise Schuldscheine über elf Billionen Dollar erworben. Diese Billionen repräsentieren einen riesigen politischen Kredit, mit dem die Zentralbanken privates Kapital ersetzen. Folge: In den USA, Japan und einigen Euro-Ländern sind sie inzwischen die größten Gläubiger des Staates. Andeutungen, die Zentralbanken könnten demnächst ihre Zinsen erhöhen oder Teile ihrer Wertpapiere verkaufen, führen regelmäßig zu Turbulenzen an den Finanzmärkten, die die Zentralbanken mit neuen Kreditzusagen beruhigen müssen.

»Auf Grund des schwachen Wirtschaftswachstums hängt die Solvenz vieler Staaten heute an den niedrigen Zinsen der Zentralbank«, urteilt die französische Bank Natixis. Offiziell verfolgten die Zentralbanken zwar das Ziel, die Inflation zu steuern. De facto aber sicherten sie die Zahlungsfähigkeit ihrer Regierungen. »Das würden sie allerdings nie zugeben.«

In ihrer neuen Rolle als EZB-Chefin dürfte sich Lagarde daher heimisch fühlen. Wie der IWF, so ist auch die Zentralbank die politische Garantin der Stabilität des Kreditsystems - und da heutzutage alle Wirtschaftstätigkeit an der Verfügung über Kredit hängt, ist sie Garantin des ganzen EU-Wirtschaftssystems. In diesem Sinne hat Lagarde als IWF-Chefin in den vergangenen Jahren alle radikalen Maßnahmen der EZB gutgeheißen: Die extrem niedrigen Zinsen wie auch die Billionen-Anleihenkäufe nannte sie »Signale in die richtige Richtung«.

Glaubwürdigkeit durch Macht

Glaubwürdigkeit und Autorität von IWF und Zentralbank beruhen weniger darauf, dass ihrem Personal eine überlegene Kenntnis der ökonomischen Zusammenhänge zugetraut wird - dieses Zutrauen wäre durch die vielen Fehler und Misserfolge von IWF und EZB längst unterminiert. Die Autorität dieser Institutionen beruht vielmehr auf ihrer Macht, souverän Zahlungsfähigkeit zu schaffen, wenn sie es für nötig halten, um das System zu stabilisieren.

Und um diese Macht auszuüben, braucht es kein Ökonomie-Studium, das können auch Politiker und Juristen wie Lagarde oder US-Zentralbankchef Jerome Powell. Der Finanzmanager Mohamed El-Erian findet die Französin daher »eine inspirierende Wahl für die EZB«, sie habe »Erfahrungen im Krisenmanagement« und »kann mit den Finanzmärkten kommunizieren«. Und Kanzlerin Angela Merkel stellte fest: »Lagarde hatte eine unbestrittene Führungsrolle beim IWF, und wer das kann, kann auch die EZB führen.«

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!