- Politik
- Martin Schirdewan
»Von der Leyen steht prototypisch für einen Kurs rechts der Mitte«
Martin Schirdewan über die Position der Linken zur CDU-Politikerin, zu bürgerlichen Koalitionen im EU-Parlament und zur Bildung der neuen Fraktion
Die Linksfraktion im Europaparlament hat angekündigt, Ursula von der Leyen nicht als Kommissionspräsidentin zu wählen. Was sind die Gründe dafür?
Wir haben Ursula von der Leyen vergangene Woche in der Fraktion empfangen und mit ihr über ihre Pläne für die Zukunft Europas diskutiert. Wir haben ihr unsere Pläne und unsere Forderungen vorgestellt. Dabei ist deutlich geworden, dass die inhaltlichen Unterschiede sehr groß und aller Voraussicht nach überhaupt nicht zu überbrücken sind. Sie steht für die Fortsetzung einer neoliberalen Reformagenda, für die Stärkung des Binnenmarktes auch auf Kosten von Rechten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sie steht als deutsche Verteidigungsministerin für eine Politik der anhaltenden und verstärkten Aufrüstung und Militarisierung der EU. Und sie hat überhaupt keine Idee geäußert dazu, wie man sich den Rechten entgegenstellen würde, und auch nicht ihre Vorstellung in irgendeiner Form konkretisiert, wie man universelle Menschenrechte auf dem Mittelmeer schützen kann und wie eine humane Flüchtlingspolitik der Europäischen Union aussieht. Das sind für uns ausschlaggebende Gründe dafür, dass wir ihr am Dienstag nicht unsere Stimme geben werden.
Die Linksfraktion hat frühzeitig und konkret Forderungen an den künftigen Kommissionsvorsitz gestellt. Was erwartet die Linke vom künftigen Präsidenten oder der künftigen Präsidentin der Kommission?
Wir haben zehn Kernforderungen formuliert. Wir erwarten zunächst einmal einen entschlossenen Einsatz gegen den Klimanotstand. Wir erwarten, dass soziale Rechte in der EU ausgebaut werden. Wir erwarten, dass endlich Steuergerechtigkeit herrscht, Vermögende und Konzerne gerecht besteuert werden und ihren Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung leisten müssen. Zu unseren Forderungen gehört ebenso, dass in Sachen Gleichstellungspolitik mehr passiert und dass universelle Menschenrechte geschützt werden.
Sind solche Forderungen nicht unrealistisch?
Sie sind in dem Sinne nicht unrealistisch, als es darauf ankommt, an einem Politikwechsel auch auf europäischer Ebene zu arbeiten. Wir haben dargestellt, wie für uns dieser Politikwechsel aussehen muss. Und rein rechnerisch zumindest gibt es derzeit im Europäischen Parlament eine Mehrheit für die Ablehnung von der Leyens, die von uns Linken bis ins liberale Lager reicht. Natürlich können wir nicht alle unsere Forderungen umsetzen, aber zumindest bestünde die Gelegenheit, dass sich diese Kräfte auf eine progressive Politik einlassen würden. Im Moment wird das abgeblockt, leider auch von den Grünen, die einen ganz klaren Ausgrenzungskurs uns gegenüber fahren und lieber an einer großen bürgerlichen Koalition arbeiten. Das ist für uns strategisch herausfordernd, aber gleichzeitig weist es uns klar die Rolle einer demokratischen linken Opposition im Europäischen Parlament zu. Die werden wir mit viel Freude ausüben und erfüllen.
Besteht nicht die Gefahr, dass eine noch stärker neoliberal ausgerichtete Person an die Kommissionsspitze treten könnte, falls Ursula von der Leyen am Dienstagabend durchfällt?
Ich glaube, Frau von der Leyen verkörpert derzeit ganz prototypisch das, was man sich unter der weiteren Entwicklung der Europäischen Union rechts der Mitte vorstellen kann. Von daher erwarte ich unabhängig von der Person heftige inhaltliche Auseinandersetzungen zwischen uns und der künftigen Kommissionsspitze oder der künftigen Kommission. Wir werden unsere Rolle als linke Opposition jeweils an Inhalten deutlich machen, nicht an Personen. Aber Fakt ist, Frau von der Leyen bekommt unsere Stimmen in keinem Fall.
In dieser Frage zieht die Linksfraktion an einem Strang. Ansonsten finden sich in der im Mai gewählten Fraktion abermals unterschiedlichste Auffassungen zur europäischen Integration.
Ja, die Linke ist auf europäischer Ebene sehr vielfältig und natürlich gibt es da durchaus auch unterschiedliche Positionen zu bestimmten politischen Fragen. Aber es gibt eine große Übereinstimmung bei den zentralen Themen. Und es gibt auch ein Bewusstsein dafür, dass wir zusammenarbeiten müssen, dass wir zusammenstehen müssen, erstens gegen eine große bürgerliche Koalition, die sich da gerade schmiedet, und zweitens auch gegen das Erstarken der Rechten. Und dafür braucht es eine geschlossene Linke. Dieses Bewusstsein herrscht bei allen vor.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.