Wie zum Krieg gerüstet wurde

Die Planung eines »Revanchekrieges« fand bereits in der Weimarer Republik statt.

  • Michael Berger
  • Lesedauer: 6 Min.

Mit 57 Divisionen überfiel Hitlerdeutschland am 1. September 1939 Polen. Insgesamt verfügte die Wehrmacht zu Beginn des Krieges über 103 Divisionen, fast 2,8 Millionen Soldaten. Für den Angriff auf die Niederlande, Belgien, Luxemburg und Frankreich im Jahr darauf standen bereits 141 Divisionen und 5500 Flugzeuge zur Verfügung. Wie konnte es dem 1918 besiegten Deutschland gelingen, in nur zwei Jahrzehnten ein neues Heer aufzustellen, größer als das des Kaiserreiches? War der Angriffs- und Vernichtungskrieg der Wehrmacht das Finale einer seit Mitte der 1920er Jahre von der Reichswehrführung geplanten und vorbereiteten militärischen »Revanche«?

Unumstritten ist in der Forschung, dass die Wiederaufrüstung lange vor der »Machtergreifung« Hitlers begann. Ein Dokument jedoch, das die Planung eines »Revanchekrieges« seit Mitte der 1920er Jahre klar beweist, war nicht bekannt. Erst die Wiederentdeckung des von General Hans von Seeckt, Chef der Heeresleitung der Reichswehr, im Jahre 1923 initiierten Dreistufenplanes für den Aufbau eines 102 Divisionen starken Heeres entlarvte die Führung der Reichswehr als eine Clique von Revanchisten, die hinter dem Rücken von Regierung und Parlament die systematische Aufrüstung vorantrieb. Ziel der Reichswehrführung war, Deutschland auf einen Angriffskrieg vorzubereiten. Die »Schande« des »Versailler Diktats« sollte ausgelöscht, verlorenes Gebiet zurückerobert und die Großmachtstellung von 1914 wiedergewonnen werden.

Die 1997 im Militärarchiv in Freiburg aufgefundenen Dokumente mit dem Kürzel »WH 808«, vier Hefte mit einigen hundert Seiten, brachten eines der am besten gehüteten Geheimnisse der deutschen Militärgeschichte ans Tageslicht. Zusammen mit Anfang der 1990er Jahre aus russischen Archiven freigegebenen Dokumenten über die geheime Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und Roter Armee widerlegten sie eine häufig wiederholte Lüge: Die Reichswehr hätte nichts weiter als die Landesverteidigung im Sinn gehabt und wäre erst durch Hitler als sein Werkzeug missbraucht worden. Die fast zeitgleiche Diskussion um die »Wehrmachtsausstellung« demaskierte diese Lüge in der breiten Öffentlichkeit als untauglichen Versuch, eine Legende von der »sauberen Wehrmacht« zu konstruieren.

Vertragsverstöße der Reichswehr

Der Entwurf für eine Streitmacht mit 2,8 bis 3 Millionen Soldaten war von sechs Majoren und zehn Hauptleuten erarbeitet worden. Planung und Durchführung der Aufrüstung fanden unter Umgehung des Friedensvertrages von Versailles statt. Nach dem Abzug der Interalliierten Militärkommission (IMKK) im Februar 1927 konnten Reichswehrministerium und militärische Führung frei von internationaler Kontrolle agieren. Doch schon die vorherige heimliche Rüstung war nicht unbemerkt geblieben. In ihrem Abschlussbericht nannte die IMKK zahlreiche Verstöße der Reichswehr gegen den Friedensvertrag von 1919, darunter die Existenz von Zeitfreiwilligen und Reservekadern sowie das Weiterbestehen des Generalstabes. Der Aufbau der so genannten »Schwarzen Reichswehr«, einer geheimen Ersatzarmee, die aus Einwohnerwehren, Freikorps und nicht aufgelösten Verbänden der kaiserlichen Armee bestand, war von der Kontrollkommission ebenso mit Misstrauen betrachtet worden wie die geheime Kooperation zwischen Reichswehr und Roter Armee.

Deutsche Demokraten und Pazifisten enthüllten die illegale Rüstung in ihren Zeitungen und in Eingaben an Regierung und Reichstag, woraufhin Zeitschriften verboten und eine Vielzahl von Verfahren wegen Landesverrats eingeleitet wurden. Musste der Vorsitzende der Deutschen Friedensgesellschaft, Ludwig Quidde (Friedensnobelpreis 1927), nach heftigen Protesten des Auslandes 1924 noch freigelassen werden, wurden Carl von Ossietzky und Walter Kreiser wegen Landesverrats und Verrats militärischer Geheimnisse im November 1931 zu je 18 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt.

Die Rede des SPD-Politikers Philipp Scheidemann vor dem Reichstag am 16. Dezember 1926, in der er Einzelheiten über die Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und Roter Armee enthüllte, verstärkten das Misstrauen der Kritiker Deutschlands in Europa. Jahrelang hatte die Reichswehr in der Sowjetunion neue Waffensysteme erprobt, etwa chemische Kampfstoffe im Objekt »Tomka« an der Wolga, sowie eine geheime Fliegerschule in Lipezk und die Panzerschule »Kama« in Kasan unterhalten. In einer Unterredung 1929 zwischen Kliment Jefremowitsch Woroschilow, Mitglied des Politbüros der KPdSU und Volkskommissar für Verteidigung, sowie Vertretern der Reichswehr, General Kurt Freiherr von Hammerstein-Equord und Oberst Erich Kühlenthal, äußerten beide Seiten ihre Zufriedenheit über die Kooperation und erörterten Möglichkeiten der Ausweitung. Mit der Machtübernahme der Nazis 1933 und deren zunehmend antisowjetischer Haltung verschlechterten sich die Beziehungen zwischen beiden Ländern. Die Zusammenarbeit brach ab.

Schon vor 1933 also waren die Kriegsvorbereitungen auf deutscher Seite in vollem Gange. Die sozialdemokratische Opposition im Reichstag hatte zwar im April 1927 noch versucht, den durch die Reichsregierung verfolgten Kurs der »Wehrhaftmachung« zu verhindern, indem sie Rüstungsausgaben von 700 Millionen Reichsmark ablehnte; die Reichswehrführung scherte dies nicht. Deutschland befand sich auf dem Weg in einen Militärstaat, zu dessen Vollendung den Militärs Hitler hoch willkommen war.

Unheilvolles Brauchtum

Am 3. Februar 1933 machte der neue Reichskanzler seinen Antrittsbesuch bei der Reichswehr im Berliner Bendlerblock. Bereitwillig schloss die Wehrmacht das Bündnis mit den Nationalsozialisten und bekräftigte es am 2. August 1934 mit dem Eid auf Hitler. Bis 1945 leisteten über 18 Millionen deutsche Wehrpflichtige den Treueeid auf den »Führer«.

Nicht nur bei den Kriegsvorbereitungen, auch bei der Umsetzung der antisemitischen Gesetzgebung der Nazis erwies sich die Wehrmachtsführung als besonders willfährig. Mit Erlass vom 28. Februar 1934 ordnete Reichswehrminister Werner von Blomberg die Anwendung des »Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« auf Soldaten an. Offiziere, Unteroffiziere und Soldaten, die nach den Bestimmungen dieses Gesetzes »nicht arisch« waren, wurden entlassen. Mit dem Wehrgesetz von 1935 wurden alle jüdischen Soldaten, auch jüdische Frontkämpfer des Ersten Weltkrieges, von Beruf und Rechten ausgeschlossen.

Der Gründung der Bundeswehr 1955 waren heftige Diskussionen in der deutschen Bevölkerung vorausgegangen. Trat sie doch die Nachfolge der Wehrmacht an, mit der Deutschland seinen verbrecherischen Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Völker Europas geführt hatte. Trotz der Zäsur von 1945 und der sorgfältigen Auswahl des militärischen Führungspersonals durch den »Personalgutachterausschuss« des Parlamentes wurde die Bundeswehr zwangsläufig durch »Aufbauhelfer« aus der Wehrmacht und Söhne der Täter mitgeprägt. Diese waren nicht an einem radikalen Bruch interessiert, bedeutete ein solcher Neuanfang doch das Eingeständnis einer Mitschuld. Mit der zur Entlastung des Gewissens verständlichen Einengung der Perspektive auf die militärischen Einzelleistungen und Sekundärtugenden - Tapferkeit, Kameradschaft, Treue - konstruierten einige Bundeswehroffiziere eine »ungebrochene« Traditionskette. In vielen Vereinen außerhalb der Bundeswehr wurde dieses verzerrte Geschichtsbild regelrecht zu einem neuen Brauchtum kultiviert und ermöglichte die vorgeblich »ideologiefreie« Ehrung von »Vorbildern« aus der Wehrmacht. Noch heute finden sich zahlreiche ehemalige militärische Spitzenkräfte, die in rechtslastigen Verlagen und Organisationen, so in der sich als »konservativ« bezeichnenden Staats- und Wirtschaftspolitischen Gesellschaft, auf einem derartigen Traditionsverständnis bestehen. General a. D. Reinhard Günzel, bis November 2003 Kommandeur des Kommandos Spezialkräfte (KSK), bezog gar die durch Kriegsverbrechen belastete Wehrmachtdivision Brandenburg ein. Damit nicht genug: »Ein Offizier muss konservativ sein«, so Günzel. Dies definierte er wie folgt: »Ich erwarte von meiner Truppe Disziplin wie bei den Spartanern, den Römern oder bei der Waffen-SS.« Glücklicherweise hat die Führung der Bundeswehr auf solche Ansätze in den letzten Jahren mit zielgerichteten ministeriellen Weisungen, Überprüfungen der Namenspatronen für Kasernen und einer Neufassung des »Traditionserlasses« reagiert.

Dennoch muss sich die Bundeswehr stets aufs Neue der Realität stellen, dass sie auch nicht in Einzelfällen auf eine Tradition vor ihrer Gründung zurückgreifen darf. Dies kann in letzter Konsequenz nur die Entfernung aller Traditionen und auch Kasernennamen, die auf die Wehrmacht zurückgehen, nach sich ziehen. Wer einen Neubeginn wagt und dazu steht, der muss sich von der Vergangenheit trennen.

Von Michael Berger, Militärhistoriker und Hauptmann a. D. der Bundeswehr, erschien zuletzt »Sei stark und tapfer! Juden in deutschen und österreichisch-ungarischen Armeen im ersten Weltkrieg«.

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