Iraner sind alle Schauspieler

Über das Filmemachen unter restriktiven Bedingungen.

Wenn man in Iran aufgewachsen ist, kennt man die Befehle beim schulischen Morgenritual: »Richtet euch!« und »Stillgestanden!« Jeden Tag in Reihen hintereinander auf dem Schulhof stehen: den Kopf aufrecht, die Brust vorgewölbt, den Bauch eingezogen, die Füße aneinander - während eine strenge religiöse Zeremonie abläuft. Auch wenn man irgendwann endlich das große Glück hat, nicht mehr zur Schule gehen zu müssen, begleiten die Geräusche einer Schule nebenan einen weiterhin im Alltag. Handelt es sich um eine Mädchenschule - iranische Mädchen und Jungen werden bis zur Universität getrennt unterrichtet - sind Rektorinnen und Ordnerinnen zu hören, die während des Morgenrituals oder in den Pausen immer wieder ins Mikrofon schreien, dass man sich an das Reglement zu halten hat: nicht laut lachen, nicht rennen, nicht mit dem Ball spielen, die Kopfbedeckung richtig tragen.

Der iranische Regisseur Sina Ataeian Dena ist auf solch eine Mädchenschule in Teheran in der Nähe seiner Filmuniversität aufmerksam geworden. Jeden Tag hört er dort die Rektorin und die Lehrerinnen zu unterschiedlichen Situationen ins Mikrofon rufen, und macht sich Notizen dazu. Im Laufe der Zeit sammelt er so einige Motive, die er in seinem Film »Ma dar behesht« (»Paradise«) verwendet, der im Jahr 2015 für den Goldenen Leoparden beim 68. Filmfestival in Locarno nominiert worden ist. Das Werk erhielt dort den Preis der Ökumenischen Jury.

Im Film geht es um eine junge Lehrerin, Hanieh, die jeden Tag den langen Weg zu einer Mädchenschule außerhalb von Teheran pendelt. In diesem armen und gleichzeitig religiösen Vorort muss sich die 25-Jährige anders benehmen als in der Hauptstadt: In Teheran führt sie ein modernes Leben, trägt in der Öffentlichkeit ihren Schal nur locker, raucht, hat einen Freund und ihre Hobbys sind Drachenbootfahren und Choreographie. Im Randgebiet dagegen setzt sie sich extra einen traditionellen schwarzen Tschador (Schleier) auf, redet unterwegs kaum mit den Menschen und in der Schule wirkt sie wie abwesend. Sie möchte gerne in eine andere Schule versetzt werden und muss sich dafür mit dem Bildungsministerium auseinandersetzen. Um ihren Wunsch verwirklichen zu können, lernt sie, sich den Regeln des Spiels anzupassen.

Regisseur Ataeian hat seinen Film nie in Iran gezeigt. Der 1984 in Ahwas, einer Stadt im Südwesten des Landes, geborene Ataeian kam 2008 im Rahmen eines Austauschprogramms mit der Filmuniversität Babelsberg nach Deutschland. Und lebt seitdem in Berlin, reist aber oft zwischen Iran und Deutschland umher. Vor Kurzem ist sein Film einmalig im Kino Arsenal in Berlin ausgestrahlt und dazu ein Buch präsentiert worden: das »Handbuch subversiver Strategien eines Films aus dem Iran«.

»In ›Ma dar Behesht‹ geht es um nicht-körperliche Gewalt und darum, wie wir sie in unserem Alltag reproduzieren«, sagt Regisseur Ataeian dem »nd«. Ihm sei klar gewesen, dass solch eine Geschichte in Iran niemals eine Drehgenehmigung bekommen hätte, denn dafür muss man das Drehbuch dem »Ministerium für Kultur und Islamische Führung« vorlegen. Drehgenehmigung heißt auf Persisch Parvaneh, auf deutsch Schmetterling, und ist außerdem ein Frauenname. »Diese ›Parvaneh‹ ist in Iran mittlerweile eine Art unerreichbare Geliebte geworden«, so Ataeian. Viele Regisseure bekämen einfach keine Genehmigung, daher habe er sowieso keine beantragt.

Insgesamt 15 Tage drehte er in Teheran und Umgebung, teilweise heimlich. Um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, war das Drehteam sehr klein. Für die Schulszenen taten sie so, als würden sie einen Dokumentarfilm über ein Mädchen aus der Nachbarschaft drehen, das in irgendeiner olympischen Disziplin international erfolgreich wurde. Dafür benötige man nur eine Erlaubnis von der Polizei, welche nicht schwer zu bekommen sei, sagt der Regisseur.

In diesem Handbuch wird erklärt, welche Tricks und Techniken verwendet wurden, um so einen realistischen Film zu machen. »Dokumentarisches Material wurde mit inszenierten Handlungen im selben Bild zusammengebracht«, heißt es im Buch. Die Geschichte des angeblichen Dokumentarfilms etwa »war natürlich nach dem Geschmack der Zensoren« - das sagt die Hauptdarstellerin Dorna Dibaj im Handbuch. In der Schule »gaben wir vor, wir seien religiöse Menschen, die systemkonform sind«. »Ich musste also vor der Kamera eine Rolle spielen und gleichzeitig auch im sozialen Gefüge hinter der Kamera. Ich denke, dass jede Iranerin und jeder Iraner eine Schauspielerin beziehungsweise ein Schauspieler ist«, so Dibaj.

In vielen Szenen sieht man etwa, dass die Mädchen im Klassenraum tanzen, wenn die Lehrerin nicht da ist. Das ist eine alltägliche Sache in den iranischen Mädchenschulen. Dieser Tanz ist ein kleiner Protest gegen die abwesende Autorität. Das zu filmen, ist aber nicht erlaubt. Daher wurden »die Aufnahmen aus dem echten Klassenzimmer mit einer im Studio nachgestellten Tanzszene kombiniert«, heißt es im Buch. »Wir wollten die Zensur nicht bekämpfen, sondern wollten lediglich unsere Geschichte erzählen. Wie wir den Film schließlich realisiert haben, mit den Spezialeffekten, den Green-Screen-Aufnahmen, viel Postproduktion und den im Studio nachgebauten Locations, war unsere Antwort darauf«, erklärt der Produzent Yousef Panahi im Buch. Solche Spezialeffekte und Strategien wendet man normalerweise in Science-Fiction-Filmen und fiktiven Geschichten an. Wenn es einem aber nicht erlaubt ist, die Realität zu filmen, muss man diese künstlich herstellen.

»Der Blick auf den Entstehungsprozess des Filmes ›Paradise‹ führt zu universellen Fragen, wie zum Beispiel nach der Macht der Bilder und deren Manipulierbarkeit als mächtiges Werkzeug repressiver Regime und in den Händen der Künstler, die sich gegen diese Limitationen auflehnen«, schreiben die Herausgeber Alec Barth und Reyhan Bokaie im Buch. Der Regisseur Ataeian hat diesen Film eher für die nächste Generation gedreht, die sich mit etwas zeitlichem Abstand mit dieser Epoche des Landes beschäftigen werden. »Dieser Film ist in erster Linie ein historisches Dokument von einem Lebenszeitabschnitt in Iran«, sagt er.

In »Paradise« sieht man, wie auch die junge moderne Lehrerin Hanieh die Mädchen in der Schule unterdrückt. »Wenn man Opfer eines Systems ist, beginnt man, sich zu arrangieren, und wird zu einem Teil des Systems«, so Ataeian. Als er sechs Jahre alt war, verstarb sein Vater. »Ich bin mit einer starken Frau aufgewachsen, in einer patriarchalischen Gesellschaft, wo das Machosein gefeiert wird«, sagt er dem »nd«. Das Erbe des Patriarchats trete er jedoch nicht an. Auf diese Weise sei Ataeian für das Thema Gewalt sensibilisiert worden. In Deutschland wird er häufig gefragt, wie er als Mann eine Frauengeschichte erzählen kann. Aber an solche Geschlechterrollen glaubt er nicht. Dafür hat er eine andere Anekdote zu erzählen: Da man seinen Vornamen »Sina« in Deutschland oft für einen Frauennamen hält, bekommt er normalerweise sofort Zusagen oder Termine, wenn er seinen Film zeigen will. »Viele denken, nun taucht eine Blondine auf, die einen feministischen Film über den Iran gemacht hat. Der Familienname ist auch ausländisch, das macht alles noch mehr sexy!«, so Ataeian. »Dann erscheine ich mit meinem Bart und sehe, wie das Gegenüber plötzlich ein langes Gesicht macht«. Mittlerweile macht er darüber selber Witze.

Alec Barth, Reyhan Bokaie: Paradise Handbook, Handbuch subversiver Strategien eines Filmes aus dem Iran. Snoeck, 176 S., mit 110 farbigen Abbildungen, br., 29,80 €

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