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Rückgrat der Wirtschaft
Am Sonntag beginnt der ver.di-Kongress: Was die Gewerkschaft wichtig macht.
Wenn vom Wirtschaftsstandort Deutschland die Rede ist, denken viele an die Industrie oder sogar nur an das Wohl und Weh der Autoindustrie, dem Rückgrat der deutschen (Export-)Wirtschaft, wie es so schön heißt. Dabei hat die klassische Industriefertigung seit den 70er Jahren stark an Bedeutung verloren. Arbeiteten bis dahin mehr Menschen in der Produktion, kippte das Verhältnis damals in Richtung Dienstleistungen. Heute arbeiten deutlich über 70 Prozent der 45 Millionen Erwerbstätigen in Deutschland im tertiären Sektor, in der Industrie gerade mal ein Viertel.
Der Dienstleistungssektor hatte im vergangenen Jahr einen Anteil von 69 Prozent an der Bruttowertschöpfung, das Produzierende Gewerbe (ohne Bau) steuerte hingegen 25 Prozent zum 3344 Milliarden Euro umfassenden Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei. Arbeitsmarktforscher gehen davon aus, dass der Dienstleistungssektor weiter an Bedeutung gewinnen wird. Deswegen ist die mit Abstand größte Dienstleistungsgewerkschaft der Republik, ver.di, überaus wichtig, wenn es um die Arbeitsbedingungen der Menschen geht.
Mehr als 1000 Delegierte der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) werden ab Sonntag in Leipzig zusammentreffen. Auf dem einwöchigen Kongress beraten sie über 1000 Anträge.
Die Wahl des Bundesvorstandes am Dienstag ist der wichtigste Tagesordnungspunkt des alle vier Jahre stattfindenden Kongresses. Nach 18 Jahren an der Spitze wird sich Frank Bsirske, der Gründungsvorsitzende der Gewerkschaft, aus dem Amt verabschieden. Designierter Nachfolger ist sein bisheriger Stellvertreter, der 52-jährige Frank Werneke.
Fünf Gewerkschaften haben sich 2001 in ver.di zusammengeschlossen. War ver.di zu Beginn mit 2,8 Millionen Mitgliedern die größte Gewerkschaft Europas, hat sie seither kontinuierlich Mitglieder verloren. Heute sind es etwa 1,9 Millionen, mehr als die Hälfte davon Frauen. Größte DGB-Gewerkschaft ist seit einigen Jahren die IG Metall. inw
Die zunehmende Dominanz von Dienstleistungen ist aus klimapolitischer Sicht eine ziemlich gute Sache. »Der universelle Trend zur Dienstleistungsgesellschaft«, so formulierte es Norbert Reuter, der die tarifpolitische Grundsatzabteilung bei ver.di leitet, in einem Vortrag, biete die Chance auf eine ökologisch und sozial nachhaltige Entwicklung. Denn er stabilisiere die Beschäftigung und führe zu einer geringeren Wachstumsdynamik. Dienstleistungen verbrauchen weniger Energie und andere wertvolle Ressourcen. Gut fürs Klima und die Gesellschaft.
Nur für die Beschäftigten fällt die Bilanz anders aus. Denn Einkommen und Arbeitsbedingungen in Dienstleistungsberufen sind deutlich schlechter als in der Industrie. Der unter Gerhard Schröder geförderte Niedriglohnsektor ist zu einem großen Teil in diesem Bereich entstanden. Statt fester Vollzeitstellen sind Befristung und Teilzeitarbeit, Werkverträge und Leiharbeit verbreitet. In einer gesamtgesellschaftlichen Rechnung gehen durch den »Trend zur Dienstleistungsgesellschaft« also gut abgesicherte Jobs verloren.
Beschäftigte, die mit Kunden, Patienten, Bürgern oder Lernenden arbeiten, sehen ihre Leistungen denn auch oft nicht ausreichend wertgeschätzt, wie eine aktuelle Sonderauswertung des DGB-Index Gute Arbeit für die Gewerkschaft ver.di zeigt. Nur 22 Prozent dieser »interaktiv Arbeitenden« meinen demnach, dass die spezifischen Anforderungen ihrer Tätigkeit bei ihrem Einkommen berücksichtigt werden. Vor allem dort, wo in der Mehrzahl Frauen arbeiten, sind die Löhne niedrig. Es ist eine Kritik an Unternehmen, Politik und Gesellschaft und zugleich Auftrag an ver.di. »Arbeit mit Menschen muss genauso wertgeschätzt werden wie die Arbeit an und mit Maschinen«, fordert der scheidende ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske.
Erfolge und Abwehrkämpfe
Welche Strategien dabei helfen, das wird im Zentrum des einwöchigen Bundeskongresses der Gewerkschaft in Leipzig stehen. Die Beseitigung von Geschlechterungerechtigkeiten auf dem Arbeitsmarkt ist eine Baustelle. Hier ist bereits einiges im Fluss. Veränderte Rollenvorstellungen, Fachkräftemangel und die zunehmende Alterung der Gesellschaft tragen dazu bei. In Krankenhäusern gibt es - ausgehend von einer Initiative an der Berliner Charité - eine bundesweite Bewegung für Entlastung der Pflegekräfte. Zudem könnte erstmals in der Altenpflege ein Branchentarifvertrag geschlossen werden und für bessere Arbeitsbedingungen sorgen.
Die meiste Zeit befindet sich ver.di jedoch in Abwehrkämpfen, um Tarifflucht zu verhindern. Es gilt die Regel: Ohne Tarif - schlechtere Löhne und weniger Sicherheit. Die Privatisierungswelle und der Personalabbau der letzten 25 Jahre haben die Gewerkschaft nachhaltig geschwächt und Mitglieder gerade im einst gut organisierten öffentlichen Dienst, bei der Post und Telekommunikation und im Verkehrssektor gekostet.
Im Einzelhandel sieht sich ver.di mit einem ruinösen Konkurrenzkampf auf dem Rücken der Beschäftigten konfrontiert. Mehr und mehr Handelsunternehmen flüchten aus der Tarifbindung - ein Gegenmittel ist bislang nicht gefunden. Selbst wenn Blockademöglichkeiten bei der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen gesetzlich gekippt würden, wäre noch nichts gewonnen, so lange sich Arbeitgeberverbände im Handel weigern, überhaupt eine solche zu beantragen. In anderen zähen Kämpfen hingegen, etwa mit Amazon, könnte die Allgemeinverbindlichkeit die Machtverhältnisse zugunsten der Beschäftigten wenden, weshalb diese Forderung an die Politik immer noch weit oben steht. Bislang ohne die erhoffte Resonanz. Frank Bsirske betont inzwischen stärker die Bedeutung des öffentlichen Vergaberechts bei der Stabilisierung der Tarifbindung.
Die IG Metall dringt da leichter durch: Der Arbeitsminister zumindest hat ihre neue Forderung nach staatlicher Abfederung des Strukturwandels durch ein »Transformationskurzarbeitergeld« bereits übernommen. Dafür hat die Koalition in dieser Woche eine andere Forderung von ver.di erfüllt und die Nachunternehmerhaftung in der Paketbranche auf den Weg gebracht. Diese Änderung ist nicht ganz so weitreichend wie neue Lohnzuschüsse, könnte aber dazu beitragen, dass in einem einzelnen Wachstumssegment des Dienstleistungssektors prekäre Arbeit zurückgedrängt wird. Das verringert auch den Druck auf tariflich geschützte Arbeitsplätze.
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