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Kein Kladderadatsch
Tom Strohschneider holt Eduard Bernstein in die Gegenwart
Angesichts der weitgehenden bis völligen Abstinenz gegenüber theoretischer Bildungsarbeit in fast allen Parteien ist der Versuch von Tom Strohschneider mit der Herausgabe dreier bedeutender Arbeiten Eduard Bernsteins verständlich und begrüßenswert. Jungen und jüngeren Aktiven in der Linken könnte die Lektüre vielleicht einen Anstoß geben, sich überhaupt ernsthafter mit dem vielfältigen theoretischen Erbe der eigenen Bewegung zu befassen.
• Tom Strohschneider (Hg.): Eduard Bernstein oder: Die Freiheit des Andersdenkenden.
Karl Dietz, 152 S., br., 12 €.
Trotz oder gerade wegen des umstrittenen Rufs des »Stammvaters des Revisionismus« sprechen zumindest drei Argumente dafür: Bernstein verstand sich immer als Schüler von Marx, »auf seinen Schultern stehend«. Zweitens blieb er zeitlebens politisch-weltanschaulich ein Sozialist, war entschiedener Gegner der Burgfriedenspolitik der SPD im Ersten Weltkrieg und wies die Hauptschuld des Deutschen Kaiserreichs an dessen Entfesselung nach. Und er dachte über viele noch »ungedachte«, aber zu erwartende Probleme der Theorie und Praxis der Arbeiterbewegung nach, von denen bis heute etliche nicht gelöst sind, darunter auch solche, die dem »realen Sozialismus« zu schaffen machten.
Das neuerliche Lesen seiner Arbeiten dürfte den Leser heute wie damals in seiner Ablehnung oder in seiner Zustimmung zu einer Politik bestärken, die darauf setzt, sozialliberal von Wahlsieg zu Wahlsieg zu schreiten beziehungsweise sich erneut der Suche nach einer Antwort auf die Grundfrage der Bewegung zu widmen: der Machtfrage.
Die ausgewählten drei Schriften - »Der Revisionismus in der Sozialdemokratie« (1909), »Wie ist wissenschaftlicher Sozialismus möglich?« (1901) und »Von der Sekte zur Partei« (1911) - entstanden zu einer Zeit, in der Bernstein noch geschätztes Mitglied und Vordenker der Bebel-Partei war. Mitglied blieb er - mit Intermezzo bei der USPD - bis zu seinem Tode mangels einer akzeptablen Alternative. Zu Weimarer Zeiten war er aber eher nur noch gnadenhalber als »Altvorderer« mit einem Reichstagsmandat versorgt.
Der Freund, Kollege und Widerpart Karl Kautsky hatte Bernstein nach dem Erscheinen des herostratisch berühmten Hauptwerks »Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie« prognostiziert, dass dieses einen Kampf entfesseln werde, »der nur mit Deiner Niederlage enden kann oder mit der Spaltung der Partei«. Und er meinte dabei weniger die theoretische Niederlage - »darüber kann nur die Nachwelt entscheiden« -, sondern vielmehr die praktische. Kautskys Prophezeiung trat ein. Kaum einer entzweite die Geister in der eigenen Partei wie Bernstein.
Der »Kampf« währte fort. Die Zahl der Bernstein-Kritiker war Legion. Und es gibt sie immer noch. Denn statt Fortschreitens zum demokratischen Sozialismus, sinkt das Vertrauen in die Sozialdemokratie schier unaufhaltsam, schwinden Wählerstimmen, Mitglieder und Sympathisanten. Die parlamentarische Schwäche der SPD lässt die Reaktion jubeln.
Natürlich kann man nicht erwarten, auch nicht bald 100 Jahre nach seinem Tod, bei Bernstein Antwort zu finden, warum es mit seinem evolutionistischen Transformationsprojekt noch nirgends geklappt hat. Man kann auch nur spekulieren, was er wohl zu Allendes Chile oder zu Fidels Kuba sagen würde. Man muss als Sozialist heute aber auch kein Anhänger des »großen Kladderadatschs« sein. Die ökologischer Krise und die Krise der parlamentarischen Demokratie, die ungerechte Weltwirtschaftsordnung, die Probleme der Migration und vor allem die neuen Kriege und Kriegsgefahren bedürfen sofortigen Handelns, nicht des Harrens auf günstige subjektive und objektive Bedingungen für eine globale Revolution. Der Zusammenbruch des Sowjetimperiums hat Zweifel an den bisherigen Wegen in eine sozialistische oder vermeintlich sozialistische Gesellschaft verstärkt.
All das zu durchdenken und zu debattieren, gibt die Einleitung des Herausgebers manche Anregung. Auch der knappe Überblick über die Bernstein-Rezeption in West und Ost ist informativ; die erwähnten Debatten im Umfeld der PDS-Programm-Diskussion waren allerdings umfassender und tiefgründiger als hier angedeutet. Sie mit einer neuen Bernstein-Debatte zu erschließen, wäre allemal sinnvoll.
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