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Zwei Schritte vor, einer zurück?
Die Bewegung gegen sexuelle Belästigung und Gewalt hat einiges erreicht. Aber auch die Männer müssen ran
Zwei Jahre ist es her, dass Betroffene von sexueller Belästigung und Gewalt unter dem Schlagwort MeToo begannen, ihre Erfahrungen zu schildern. Vor allem Frauen machten sich Luft, fanden Worte für Unbeschreibliches, hörten einander zu, schöpften Mut.
Die daraus resultierende weltweite Bewegung hat einige Erfolge zu verzeichnen: Systematischer Machtmissbrauch ist zum Gegenstand einer großen öffentlichen Debatte geworden, auch offline, in Feuilletons und an Stammtischen. Sich lange Zeit unantastbar wähnende Männer wurden in der Folge angeklagt, darunter der Musiker R. Kelly und der Geschäftsmann Jeffrey Epstein. Filmproduzent Harvey Weinstein steht bis heute vor Gericht. Larry Nassar, der ehemalige Arzt der US-Turnnationalmannschaft, wurde zu 40 bis 175 Jahren Haft verurteilt - er hatte im Laufe seiner Karriere über 100 Sportlerinnen missbraucht. In Deutschland bestätigte der Bundesgerichtshof erst vergangene Woche die zweijährige Haftstrafe für Siegfried Mauser. Der Ex-Präsident der Musikhochschule München hatte über Jahre immer wieder eine Sängerin in seinem Büro auf das Sofa gestoßen, sich auf sie gelegt oder sie mit festem Griff gehalten und trotz Protesten und Gegenwehr sexuelle Handlungen an ihr vorgenommen.
Momente der Enttäuschung
Doch nicht alle haben die Kraft, eine Strafanzeige zu stellen. Wenn doch, wird oft nicht gut ermittelt. So hat der Schauspieler Kevin Spacey nach Anschuldigungen zwar Rollenangebote und Ansehen verloren, die Anklagen gegen ihn wurden jedoch aus teils fadenscheinigen Gründen fallengelassen. Umgekehrt werden Frauen, die über die erfahrene Gewalt sprechen, häufig angegriffen und sogar mit dem Tod bedroht.
Einer der dunkelsten Momente seit Beginn der MeToo-Bewegung war die Ernennung von Brett Kavanaugh zum Richter am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten, obwohl ihn die Professorin Blasey Ford der Vergewaltigung beschuldigt und vieles darauf hindeutet, dass sie die Wahrheit sagt. Als wäre das nicht schon schlimm genug, attackierten misogyne, also frauenfeindliche Männer Ford so heftig, dass sie irgendwann ihren Wohnort wechseln musste. Im Fall Weinsteins erhoben sich in kürzester Zeit Stimmen, die die Anklägerinnen der Lüge bezichtigten. Wo die nach wie vor gesellschaftlich normalisierte Gewalt gegen Frauen thematisiert wird, ist der reaktionäre Backlash nicht weit.
Männer wissen es genau
An allen Ecken und Enden wurden nach MeToo Befürchtungen laut, dass man als Mann jetzt gar nichts mehr dürfe, wenn jeder freundlich gemeinte Klaps auf den Hintern sofort zur sexuellen Belästigung deklariert werde. Nach MeToo geschah das, was immer passiert, wenn über sexuelle Gewalt gesprochen wird: Männer wehren die Debatte ab. Manche verweigern die (Selbst-)Reflektion wohl, weil sie tief in ihrem Inneren wissen, dass man vielleicht wirklich einmal Täter war. Da geht man lieber gegen die »hysterischen Weiber« auf die Barrikaden und inszeniert sich als Opfer politischer Korrektheit.
Derartige Abwehrreflexe lassen sich im Übrigen auch bei Frauen und sogar bei einigen »Feministinnen« beobachten. So verteidigten einige den Star-Tenor Plácido Domingo, dem mehrere Frauen übergriffiges Verhalten vorwerfen. Sie erklären dann: Ach, diese junge Sängerin, die hat vorher keiner gekannt, die wolle sich nur wichtig machen.
Das mag in wenigen Ausnahmefällen stimmen. Doch diese Reaktion ist nicht nur empathielos. Sie ist falsch, denn indem sie Täter zu Opfern macht, verdreht sie die Fakten. Wer MeToo auf diese Weise kritisiert, öffnet Tür und Tor für den Antifeminismus, von dem die extreme Rechte derzeit so stark profitiert.
Das alles ist deshalb frappierend, weil die meisten Männer - theoretisch - sehr genau wissen, wie sie sich verhalten sollten. Bei einer Befragung der Wirtschaftswissenschaftlerinnen Leanne Atwater und Rachel Sturm aus dem Jahr 2017 waren sich 75 Prozent der Männer und Frauen einig, was alles unter sexuelle Belästigung fällt. Zum Beispiel: eine Kollegin weiter nach Verabredungen fragen, obwohl sie bereits nein gesagt hat, Sexwitze an die Chefin schicken, das Aussehen von Frauen kommentieren, die in der Hierarchie unter einem stehen.
Die falschen Schlüsse
So erfreulich dieses Bewusstsein ist, ziehen Männer daraus offenbar die falschen Schlüsse. Die Erhebung zeigte damals: Männliche Vorgesetzte fühlen sich unwohl damit, attraktive Frauen einzustellen oder alleine Gespräche mit weiblichen Angestellten zu führen. 58 Prozent gaben an, Falschanklagen zu fürchten.
Atwater und ihr Team haben die Studie 2019 aktualisiert. Sie wollten herausfinden, wie die durch MeToo ausgelöste Debatte die Position der Befragten beeinflusst hatte, und befragten 152 Männer und 303 Frauen. Die Ergebnisse sind besorgniserregend. Heute haben doppelt so viele Männer wie noch vor zwei Jahren Skrupel, attraktive Kolleginnen einzustellen. Denken diese Männer etwa so viel an die eigene Karriere, dass sie nicht auf die Idee kommen, Frauen könnten mit ihrer neuen Macht - dass sie nun den Hauch einer Chance haben, sich gegen Sexualstraftäter zu wehren - Besseres anfangen, als unschuldige Männer an den Pranger zu stellen? Beispiele wie das von Blasey Ford illustrieren deutlich, dass Betroffene, die den Mut haben zu sprechen, davon nicht profitieren.
Schadet MeToo Frauen also womöglich? Aus der Umfrage von Atwater, die nicht repräsentativ ist, sollte das nicht abgeleitet werden. Ihre Ergebnisse zeigen vor allem eins: dass Bewegung in das Geschlechtertheater gekommen ist. Frauen reden mehr über die Taten von Männern. Natürlich verunsichert das. Manche Charaktere kann das regelrecht zerrütten. Nicht, weil alle etwas verbrochen haben oder schlechte Menschen sind, sondern weil das klassische Ideal von Männlichkeit ins Wanken gerät. Plötzlich stellt Mann alle möglichen Verhaltensweisen infrage, über die Mann bisher täglich die eigene Identität reproduziert hat. Das ist anstrengend und macht keinen Halt vor netten Typen, die sich immer bemüht haben, emphatisch und respektvoll mit Frauen umzugehen. Auch oder gerade sie hat MeToo zum Nachdenken gebracht. Lernprozesse dieser potenziellen Verbündeten sollten Feministinnen wohlwollend begleiten.
Praktische Tipps
Wollen Männer nicht nur nett, sondern feministisch sein, sollten sie verstehen, dass sexuelle Gewalt eben nicht nur individuelles Fehlverhalten, sondern auch ein Effekt der patriarchalen Herrschaftsordnung ist. Denn der Machtunterschied zwischen den Geschlechtern ermöglicht die Gewalt oft erst. Das trifft auch auf Männer aus der Kategorie »armes Würstchen« zu, die meinen, sie müssten Macht über Frauen haben - und wenn dem nicht so ist, übergriffig werden.
»Echte Männer«, die nach dieser Erkenntnis aufhören zu leugnen oder zu lamentieren, können als nächstes proaktiv voranschreiten und sich neue Entwürfe von Männlichkeit ausdenken: welche, die ohne permanenten Machtüberschuss über andere auskommen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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