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Frauen sollen selbst entscheiden
Cornelia Möhring über die weltweit fehlende reproduktive Gerechtigkeit
Reproduktive Gerechtigkeit ist eines der zentralen Ziele feministischer Arbeit. Ihr Grundsatz ist einfach: Frauen sollen selbstständig und frei entscheiden können ob, wann und wie oft sie schwanger werden. Hierzulande kämpfen wir noch immer für die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, wir setzen uns für kostenlose Verhütungsmittel ein.
Aber reproduktive Gerechtigkeit meint mehr: die grundlegende Freiheit und Sicherheit jeder Frau, über ihre reproduktive Biografie frei entscheiden zu können und dabei von einem System gestützt zu werden, dass ihre Gesundheit und Würde – und die ihrer möglichen Kinder – bewahrt. Umfassende Aufklärung, legale Schwangerschaftsabbrüche, aber auch die Möglichkeit ein gutes Leben mit Kindern zu führen, gehören dazu. Egal ob alleinerziehend oder mit Partner*in.
Dazu gehört auch eine Gesundheitsversorgung, die den Namen verdient hat. Hebammenmangel und Pflegekrise sind ernsthafte Bedrohungen für die reproduktive Situation von Frauen in Deutschland. Geburtsstationen und Kinderkliniken schließen, weil sie keinen Profit erwirtschaften.
Und doch ist die Situation hier besser als in weiten Teilen der Erde. Laut des diesjährigen Weltbevölkerungsberichts haben geschätzte 214 Millionen Frauen und Mädchen weltweit keinen Zugang zu modernen Verhütungsmitteln. In Ländern des globalen Südens betrifft das jede vierte Frau im gebärfähigen Alter.
Als reiches, hochindustrialisiertes Land, das die größten Teile seines Wohlstands aus imperialer Ausbeutung eben dieser Länder erwirtschaftet hat, liegt auf uns eine große Verantwortung, die sozialen Missstände, die durch Armut und mangelnder oder durch neoliberale »Strukturanpassungsprogramme« regelrecht zerstörter Infrastruktur entstanden sind, zu beheben. Dass dieses Problem drängend ist, zeigen erschreckende Zahlen: Im Durchschnitt sterben weltweit jeden Tag 800 Frauen und Mädchen im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt. Dazu gehören so tragische, weil einfach vermeidbare, Ursachen, wie unsichere Schwangerschaftsabbrüche.
Die Folgen gehen jedoch weit darüber hinaus. Wenn Frauen keine Entscheidungshoheit darüber haben, ob und wann sie schwanger werden, wie viele Kinder sie haben werden und auch, ganz grundlegend, mit wem sie Kinder zeugen wollen, werden sie auf ihre reproduktive Funktion reduziert und an diese gebunden. Sie können nicht entscheiden, welchen Beruf sie ergreifen möchten, ob sie eine Beziehung eingehen oder lösen möchten, ob sie den Wohnort wechseln wollen. Das behindert die freie Entfaltung und Selbstständigkeit dieser Person. Und es erzeugt Abhängigkeit von anderen – mit großer Wahrscheinlichkeit von Männern. Es widerspricht daher fundamental den Menschenrechten, die den Einzelnen zustehen.
Die Geschichte unserer wirtschaftlichen Entwicklung, der Kolonialismus der europäischen Staaten und der andauernde Imperialismus, bringt uns aber nicht nur eine besondere Verantwortung für die Lebensumstände derer, die unter imperialer Ausbeutung leiden. Sondern auch in besonderem Respekt vor dem Selbstbestimmungsrecht anderer Gesellschaften zu handeln. Viel zu schnell passiert es, dass sich in die vermeintlich nüchterne Feststellung über die mangelnde Versorgungslage in afrikanischen Staaten rassistische Vorurteile mischen. Das reproduziert reaktionäre und repressive Konzepte wie staatliche Geburtenkontrolle und Überbevölkerung als Hauptproblem von armen Gesellschaften.
Das Problem armer Gesellschaften sind nicht viele Kinder, sondern Armut. Die hauptsächliche Ursache für Armut in hohen Geburtenraten zu sehen, ist geschichtsvergessen und gerade aus westlicher Perspektive brandgefährlich, denn dadurch wird die koloniale Haltung gegenüber Staaten und der Bevölkerung des globalen Südens reproduziert. Wir, die weißen Retter bringen »den Menschen in Afrika« die sexuelle Aufklärung. Diese Vorstellung ist fatal.
Sie macht die Frauen, für die man behauptet sich einzusetzen, unsichtbar. Sie ist überheblich und dient letztlich nie den betroffenen Personen, sondern bildet die Grundlage für weitere Ausbeutung, als Hilfe getarnt, über die Köpfe der lokalen Bevölkerung hinweg. Und vielleicht am schlimmsten: Von hier ist der Schritt zur sexistischen und rassistischen Vorstellung von schwarzer Männlichkeit als dominantem »Ausbreitungstyp« (Björn Höcke) und schwarzer Weiblichkeit als völlige Passivität und Schicksalsergebenheit nicht weit.
Die Linksfraktion pocht seit langem in Anträgen an die Regierungsarbeit und den Bundeshaushalt auf die Verantwortung Deutschlands, sich weltweit für einen universellen Zugang zu einer effektiven, qualitativ hochwertigen und bedürfnisorientierten Gesundheitsversorgung einzusetzen. Im Kern dieser Gesundheitsversorgung müssen die sexuelle und reproduktive Gesundheit stehen. Die Umsetzung dieser Rechte müssen zu einem Schwerpunkt der deutschen und europäischen Entwicklungszusammenarbeit gemacht werden.
Praktisch bedeutet das aber eben nicht, selbst Kliniken zu eröffnen, oder, wie so oft der Fall, westlichen Konzernen mit »humanitärer Intention« den Marktzugang zu sichern, damit diese dort private Kliniken oder Beratungsstationen eröffnen können. Es bedeutet, die Schäden die unsere westliche Politik im globalen Süden in den letzten Jahrhunderten verursacht hat, zu beseitigen und Projekte der ortsansässigen Bevölkerung zu stärken.
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